Der Rheinfall bei Schaffhausen. Aquarell, das Mendelssohn auf der Reise von 1847 malte.
Mendelssohn und die Schweiz

«Von allen Ländern, die ich kenne, ist dies das schönste»

Das Tonhalle-Orchester Zürich widmet sich mit einem Zyklus Felix Mendelssohn Bartholdy – und damit einem Komponisten, der die Schweiz liebte. Höchste Zeit für eine Spurensuche.

Lion Gallusser

Entdeckungslust, Inspiration, Erholung und Trost: Mit diesen vier Schlagworten lässt sich Mendelssohns tiefe Beziehung zur Schweiz umreissen. Dies zeigt schon ein erster Blick auf die insgesamt vier Aufenthalte hierzulande.

Mendelssohns vier Aufenthalte in der Schweiz

  • 1822 unternahm Mendelssohn als 13-Jähriger eine zweimonatige Schweiz-Reise mit seiner Familie, die ihn von Schaffhausen über das Rheintal zunächst nach Zürich führte, dann über den Vierwaldstättersee und den Gotthard ins Berner Oberland und von da an den Genfersee.
  • 1831 setzte Mendelssohn die Schweiz auf das Programm einer Bildungsreise, die er als junger Mann antrat. Von Italien und Frankreich her kommend machte er eine Fussreise (!) durch die Schweiz, die ihn von Vevey über Interlaken und die Innerschweiz bis an den Bodensee führte. Dabei bestieg er mehrere Berge und Pässe wie das Faulhorn oder den Grimsel.
  • 1842 wurde er als mittlerweile sehr berühmter Komponist an das Schweizerische Musikfest in Lausanne eingeladen. Er liess es sich aber nicht nehmen, einen Abstecher in die Walliser und Berner Alpen zu machen, wo er u.a. den Gemmi-Pass erklomm.
  • 1847 schliesslich fuhr er über den Sommer in die Schweiz. Im geliebten Berner Oberland (vor allem in Interlaken) suchte er nun Erholung und Trost vom plötzlichen Ableben seiner geliebten Schwester Fanny.

Keller’s erste Reisekarte der Schweiz ¹

Mendelssohn muss diese Karte verwendet haben, von seiner Reise im Jahre 1831 jedenfalls schreibt er seinen Schwestern: «[…] holt doch einmal die alte Reisekarte von Keller heraus […]; denn Ihr müsst mich auf meiner Wanderung begleiten können.» (Brief vom 06.08.1831)

Entdeckungslust

Schon auf der Familienreise von 1822 ist Mendelssohn begeistert von der Schönheit der Schweiz mit ihrer überwältigenden Natur. Bereits auf dieser ersten Reise hielt Mendelssohn, der auch über ein äusserst ausgeprägtes zeichnerisches und malerisches Talent verfügte, seine Eindrücke in bildnerischen Darstellungen des Landes fest. Auf den späteren drei Schweiz-Reisen treten zwar vermehrt auch Briefe und Tagebucheinträge dazu, weiterhin war ihm die plastische Wiedergabe seiner Impressionen aber wichtig. Ja, mehr noch: Schon nach seiner zweiten Schweiz-Reise von 1831 erweiterte er gewisse Zeichnungen zu ausgefeilteren farbigen Darstellungen. Solche Aquarelle fertigte er auf den letzten beiden Schweiz-Reisen direkt an.

Der Rheinfall bei Schaffhausen. Aquarell, das Mendelssohn auf der Reise von 1847 malte.²

Mendelssohn scheinen die bildnerischen Darstellungen auch die Möglichkeit geboten zu haben, näher an die Schönheit des Landes heranzukommen als mit Worten. Auf seiner Reise von 1831 berichtet er: «Da sind wir denn in Interlaken, so recht in der Mitte der Schweiz, deren Schönheit mit Worten gar nicht auszudrücken ist, wie es denn alle möglichen Reisebeschreiber auch schon gesagt haben.» Für seine dritte Reise elf Jahre später führte er deshalb ein Skizzenbuch statt eines Journals: «Schweizer Beschreibungen sind ja gar nicht zu machen, und statt eines Tagesbuchs, wie das vorigemal, zeichne ich diesmal ganz wüthig darauf los.» ³

Die Kathedrale und die Promenade Montbenon in Lausanne. Zeichnung, die Mendelssohn auf der Reise von 1842 anfertigte.


Abbildung: Engelberg

Die Briefe hingegen haben häufig eher berichtenden Charakter, sind mit ihren prägnanten Beschreibungen aber nicht minder eindrückliche Zeugnisse von Mendelssohns Faszination für die Schweiz. In ihnen wird neben der Schilderung der Schönheit der Natur auch eine weitere «reinigende» Komponente für den Städter aus gutem Hause deutlich: jene des Erlebens der Naturgewalten und -elemente, mit denen er vor allem auf seinem Fussmarsch durch die Schweiz von 1831 konfrontiert war. Das Erleben der Landschaft und gerade der Berge in verschiedenen Wetterlagen scheinen seine Erlebnisse noch verstärkt zu haben.

«Ich war auf dem Faulhorn, auf der großen Scheideck, im Grimselspital, bin heute über Grimsel und Furka gekommen, und was ich am meisten gesehen habe, sind die schäbigen Ecken meines Regenschirms, – die großen Berge fast gar nicht. Einmal kam heute das Finsteraarhorn heraus, aber es sah so böse aus, als wollte es einen fressen. Und doch, wenn eine halbe Stunde ohne Regen war, so war es gar zu schön. Die Fußreise durch dies Land ist wirklich, selbst bei so ungünstigem Wetter, das Reizendste, was man sich nur denken kann; bei heiterm Himmel muß es vor Vergnügen gar nicht auszuhalten sein. Drum darf ich mich auch nicht über’s Wetter beklagen, denn es giebt doch Freude vollauf.» (Tagebucheintrag von Mendelssohn in Hospental vom 18.08.1831)

«Das Land ist über alle Begriffe schön, und obwohl das Wetter wieder entsetzlich ist, – Regen und Sturm den ganzen Tag, und die Nacht durch – so waren doch die Tellsplatte, das Grütli, Brunnen und Schwyz, und heut Abend die blendend grünen Wiesen in Unterwalden, unvergeßlich schön.» (Tagebucheintrag von Mendelssohn in Sarnen vom 20.08.1831)

«Ich lief hinauf; es gab da wieder ein neues wunderbares Schauspiel; in den Thälern war alles voll Nebel und Wolken, und darüber sahen hohe Schneegebirge, und die Gletscher mit den schwarzen Felsen, rein und klar hervor. Die Nebel zogen weiter, – verdeckten einen Theil; da kamen die Berner Gebirge, Jungfrau, Mönch, Finsteraarhorn heraus; dann der Titlis und die Unterwaldener; zuletzt stand die ganze Kette klar neben einander; nun fingen auch in den Thälern die Wolken zu zerreißen an; man sah die See’n, Luzern, Zug, und gegen Sonnenuntergang lagen nur noch dünne helle Nebelstreifen auf der Landschaft. Wenn man so aus den Bergen kommt, und dann nach dem Rigi sieht, – das ist, als käme am Ende der Oper die Ouvertüre, und andere Stücke wieder; alle die Stellen wo man so Himmlisches sah: die Wengernalp, die Wetterhörner, das Engelberger Thal sieht man hier noch einmal neben einander liegen, und kann Abschied nehmen. Ich dachte es könne nur das erstemal, durch die Überraschung, wenn man die Gletscher noch nicht kennt, so große Wirkung machen; aber sie ist fast noch größer am Ende. – » (Tagebucheintrag von Mendelssohn in Rigikulm vom 30.08.1831)

Inspiration

Die Schweiz war für Mendelssohn auch ein Ort der musikalischen Inspiration. Hier begann er mit der Komposition seines ersten Werkes, das er mit einer Opus-Nummer versah: Gegen Ende der Familienreise von 1822 machte er sich an das erste Klavierquartett op. 1. In der Schweiz entstand auch sein allerletztes abgeschlossenes Werk, das Streichquartett Nr. 6 in f-Moll, mit dem er den Tod seiner Schwester Fanny verarbeitete (siehe «Erholung und Trost»).

Mendelssohn lag es sehr, lebensweltliche Eindrücke in seine Musik aufzunehmen. Entsprechend gibt es einige Kompositionen, die Reiseerfahrungen reflektieren. So verdankt die 4. Sinfonie ihren Übernamen «Italienische» u.a. dem Umstand, dass Mendelssohn darin italienisches Lokalkolorit aufnahm: etwa in Form eines Saltarellos, eines Volkstanzes, den er auf seiner Reise in Italien von 1830/31 «aufgeschnappt» hatte (kurz danach setzte er seine Bildungsreise in der Schweiz fort). Auch die «Schottische» Sinfonie (Nr. 3) oder die «Hebriden»-Ouvertüre sind inspiriert von Reiseeindrücken.

Die Natur und die Brauchtümer der Schweiz allerdings haben im kompositorischen Œuvre von Mendelssohn erstaunlicherweise nur leichte Spuren hinterlassen. Es gibt sie aber doch, und zwar in zwei der insgesamt zwölf «Jugendsinfonien», in denen sich der junge Mendelssohn auf das Streichorchester beschränkte und sich damit an die späteren grossen Sinfonien herantastete.

In der Streichersinfonie Nr. 9, die kurz nach der Rückkehr von der Schweiz-Reise von 1822 entstand, nahm er im Trio des Scherzos die Jodlermelodie «Uf d’Alme gömmer ufe» auf. Aus einem Brief dieser ersten Reise wissen wir, dass das Jodeln für Mendelssohn zur «Schweizer Landschaft» gehörte.

Ausschnitt aus der handschriftlichen Partitur der 9. Streichersinfonie Mendelssohns. Oben links zu sehen ist die vom Komponisten gewählte Bezeichnung «Schweizerlied» (doppelt unterstrichen).

Aufnahme des Trios mit «Schweizerlied», das schon bald als «La Suisse» bezeichnet wurde.

«Zuerst das Jodeln: zuerst nenne ich es, weil es in der ganzen Schweiz verbreitet, und alle Schweizer Landleute können jodeln. […] Es ist nicht zu leugnen, dass diese Art von Gesang in der Nähe oder im Zimmer rau und unangenehm klingt. Doch wenn Echos darauf antworten oder sich damit vermischen, wenn man im Tale steht, und auf dem Berge oder im Walde das Jodeln und das Jauchzen hört, das der Enthusiasmus der Schweizer für ihre Gegend hervorbringt […] – dann klingt dieser Gesang schön, ja, er hängt genau mit dem Bilde zusammen, das ich mir von einer Gegend mache, und es gehört gleichsam zu einer Schweizer Landschaft.» (Brief von Mendelssohn an seinen Kompositionslehrer Carl Friedrich Zelter vom 13.09.1822)

Ein musikalischer Rückblick findet sich auch in der wenige Monate später entstandenen 11. Jugendsinfonie. Hier gestaltete Mendelssohn das ganze Scherzo als «Schweizerlied», indem er den Satz aus einen Emmentaler Hochzeitstanz entwickelte. Letzteren kannte er aus der «Sammlung von Schweizer Kühreihen und Volksliedern», einem damals beliebten Souvenir aus der Schweiz.

Die «Sammlung von Schweizer Kühreihen und Volksliedern», hier das Titelblatt der vierten Auflage von 1826.

Die Streichersinfonie Nr. 9 wird manchmal als «Schweizer Sinfonie» bezeichnet. Eine eigentliche grosse Sinfonie mit Schweizer Inspiration, analog zur «Italienischen» oder «Schottischen», hat Mendelssohn aber nie geschrieben.

Erholung und Trost

Am 14. Mai 1847 erreichte Mendelssohn, der gerade von einer England-Reise zurückgekehrt war, die Nachricht, dass seine ihm so enge Schwester Fanny in Berlin plötzlich an einem Hirnschlag gestorben war. Diesen Schicksalsschlag trieb ihn geradezu reflexartig zu einer Erholungsreise in die Schweiz, die er schon Ende Mai antrat.

In der geliebten Natur der Schweiz suchte Mendelssohn nun Trost und Ablenkung. Auf Spaziergängen in der erhabenen Umgebung erfuhr er die menschliche Existenz noch einmal auf eine ganz andere Weise. Er schätzte die Ruhe und Abgeschiedenheit, wohingegen ihm gesellschaftliche Kontakte seelische Schmerzen bereiteten.

«[…] die guten Stunden wurden […] zu allerlei Spaziergänge benutzt, und wohin man nur geht, da ist es herrlich. Wird das Wetter wieder sicher, so will über den Susten und auf’s Sidelhorn, was in einigen Tagen von hier aus zu machen ist. Aber selbst sazu den Entschluß zu fassen wird uns schwer: so schön ist’s hier, und so wohl thut uns das einförmige, stille Leben. Dabei ist mir schon oft recht vollkommen heiter zu Muthe geworden; nur wenn Menschen kommen […], so wird mir gleich so unsäglich traurig zu Muth, daß ich gar nicht weiß, wie ich’s aushalten soll.» (Brief von Mendelssohn aus Interlaken an seinen Bruder Paul vom 03.08.1847)

Zur Bewältigung des Verlustes machte sich Mendelssohn in Interlaken auch an die Komposition eines Werkes, das heute gemeinläufig als «Requiem für Fanny» bekannt ist. Für das unausweichliche Schicksal und den Schmerz fand Mendelssohn äusserst emotionale, mal eindringlich drängende, mal resignierende Klänge.

Zurückgekehrt nach Leipzig stellte Mendelssohn das Streichquartett op. 80 dem Musiker Ignaz Moscheles vor. Dieser beobachtete bereits den Zusammenhang von Komponist und Werk in seinem Tagebuch: «Der leidenschaftliche Charakter des Ganzen scheint mir im Einklang mit seinem tieferschütterten Seelenzustande zu sein, er kämpfte noch mit dem Schmerz über den Verlust seiner Schwester.»

Keine zwei Monate nach Abschluss des Streichquartetts Nr. 6, seines letzten vollendeten Werkes, verstarb auch Felix Mendelssohn Bartholdy, der inzwischen nach Leipzig zurückgekehrt war. Ein 1831 geäusserter Wunsch zur Schweiz und zu einem langen Leben sollte sich damit nicht erfüllen: «Von allen Ländern[,] die ich kenne, ist dies das schönste und das, in dem ich am liebsten leben möchte, wenn ich alt würde.»

Entdecken Sie mehr

In der Rubrik Mendelssohn finden Sie Konzertaufzeichnungen und weitere Texte über Mendelssohns Reisen nach Italien, Schottland und in die Schweiz.

Idagio-Playlist

Mendelssohns Liebesbeziehung zur Schweiz war eine fürs Leben: Von der zündenden Idee zum Opus 1, über «Schweizerlieder» für Streichorchester bis hin zu tröstenden Melodien inspirierte das Alpenland seine Kompositionen immer wieder.

Hören Sie sich die für Sie zusammengestellten Kompositionen Mendelssohns in der Playlist auf IDAGIO an.

Quellen:

* https://commons.wikimedia.org/wiki/Felix_Mendelssohn_Bartholdy?uselang=de#/media/File:Felix_Mendelssohn_Bartholdy_-_Aquarell_von_James_Warren_Childe_1830.jpg
¹ Quelle: [Keller’s erste Reisekarte der Schweiz]. [Zürich] : [Keller], [1837?]. Zentralbibliothek Zürich, 4 Hb 05: 58, https://doi.org/10.3931/e-rara-33695 / Public Domain Mark.
² bpk / Staatsbibliothek zu Berlin
³ Aus dem Handbuch, Beitrag zu Zeichnungen
⁴ bpk / Staatsbibliothek zu Berlin / Ruth Schacht
https://www.projekt-gutenberg.org/mendelba/briefe/chap007.html
⁶ Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz
⁷ Quelle für die Abbildung: Sammlung von Schweizer-Kühreihen und Volksliedern : Recueil de ranz de vaches et chansons nationales de la Suisse. Bern : J.J. Burgdorfer, 1826. Zentralbibliothek Zürich, Jenny A 9011, https://doi.org/10.3931/e-rara-24762 / Public Domain Mark.

veröffentlicht: 18.03.2021