Porträt

Freiräume in der Generalpause

Ursula Sarnthein spielt schon 22 Jahre im Tonhalle-Orchester Zürich. Zwar hat sie unterwegs von der Geige zur Bratsche gewechselt, ihrem Orchester aber ist sie treu geblieben, obwohl sie beinahe in Berlin und schier in Sydney gelandet wäre.

Melanie Kollbrunner

Weihnachten war in diesem Jahr auch bei Sarntheins anders. Ursulas Weihnachtsbaum steht nicht wie sonst bei der Familie ihres Mannes in den Tiroler Bergen, sondern im Wohnzimmer ihres Hauses in Hirslanden. Wegen der Pandemie ist die siebenköpfige Familie erstmals seit vielen Jahren zu Hause geblieben. Der Lockdown bedeutete auch musikalischen Verzicht: Neben Orchesterkonzerten fiel auch eine ganze Reihe von Auftritten mit ihrem geliebten Trio Oreade aus, auch ein Lunchkonzert im November in der Tonhalle Maag, auf das sie sich intensiv und voller Vorfreude vorbereitet hatte. «Leider», sagt Ursula und fügt an: «Aber die letzten Monate hatten auch ihr Gutes.» Überhaupt ist sie diesem schwierigen Jahr mit viel Optimismus begegnet. «Vor dem Lockdown im März war ich ausgelaugt, die Pause kam wie ein Sabbatical. So fand ich endlich Zeit, Solowerke einzustudieren, die mich schon lange faszinieren und begleiten.» Eins davon ist Bachs Chaconne, die Ursula schon lange auf der Bratsche spielen wollte. Auch fand sie jetzt den Raum, eine Weiterbildung in Kulturmanagement zu absolvieren und eine eigene Webseite zu gestalten, auf der ihre persönlichen Projekte zu finden sind. Oder die Tonspur der Chaconne, die sie inzwischen unter anderen Werken im Tonstudio aufgenommen hat.

Die Beschränkung auf wenige Konzertbesucher nutzte sie auf ihre Weise: «Ich war sehr glücklich, dass ich im Advent ganz kurz vor dem Veranstaltungsverbot zusammen mit dem Pfarrer des Grossmünsters Martin Rüsch spontan noch ein Benefizkonzert in der Wasserkirche realisieren konnte. Nicht ganz allein – eine Handvoll Ungewöhnliches und Vertrautes in Musik und Wort für Bratsche Solo und Sprecher, so hiess der Anlass, ergab einen schönen Betrag für den Hilfsfond des Schweizerischen Musikerverbands.

Postkarten voller Möglichkeiten

Wenn sich in Ursulas Welt Freiräume auftun, dann sucht sie Wege, diese zu bespielen. Sie ist strukturiert, strategisch und zielgerichtet. Dabei, sagt sie, habe sie manchmal einfach Glück gehabt. Aufgewachsen in einem Dorf nahe Köln hat sie als Kind täglich eine Stunde gegeigt, selten mehr. Als sie mit siebzehn Jahren entschied, Musikerin zu werden, hiess es daheim: Oh nein. Sie tat es trotzdem und schlug vor – «Ich studiere das jetzt, und wenn ich drei Jahre nach Abschluss keine Stelle hab, dann hör' ich sofort auf.» Dann wäre Ursula Lehrerin geworden, Latein und Geschichte. Dazu kam es nicht. Sie spielte 1998 in Zürich für eine Stelle bei den zweiten Geigen vor und wurde prompt angestellt. Aus Unternehmungslust machte sie in den nächsten Jahren Probespiele für eine Bratschenstelle in Sydney und beim Deutschen Sinfonieorchester Berlin und wurde bei beiden ausgewählt. In Australien verliebte sie sich, spielte für eine Stelle in Sydney vor und wurde ausgewählt. Die Liebe war irgendwann verflossen, und Sydney schien doch sehr weit weg. So blieb sie hier und geigte in ihrem Zürcher Orchester weiter.

Die Entscheidung, nach Berlin zu gehen oder in Zürich zu bleiben, fiel ihr schwerer. Klar war: Sie wollte im Orchester Bratsche spielen. An ihrem Spind in der Tonhalle Zürich hing wochenlang eine Postkarte aus Berlin, die sie sich mitgebracht hatte, um sich selbst vom Umzug zu überzeugen. Den hätte sie wohl angetreten, wäre da nicht auch zuhause in Zürich eine Stelle bei den Bratschen frei geworden. Ursula trat hier erneut zum Probespiel an, überzeugte, unterschrieb und spielt seither, heute ist sie 49, in ihrem Wunschregister, in ihrem Wunschorchester, in ihrer Wunschstadt.
Und sie tut dies voller Dankbarkeit. Die Spielfreude sei immer wieder ansteckend, und gerade in einem Jahr wie diesem könne man ob derart guten Arbeitsbedingungen wirklich froh sein. Sie schätzt die Möglichkeit, in Gremien mitzuarbeiten: Vor kurzem wurde sie als Personalvertreterin in den Verwaltungsrat der Tonhalle-Gesellschaft Zürich AG gewählt, ausserdem ist sie schon seit mehreren Jahren Teil der Kommission, die die orchestereigene Kammermusikreihe organisiert. Auch biete ihre Anstellung die Flexibilität, neben dem Engagement fürs Orchester der Kammermusik nachzugehen. Ursula sucht immer wieder neue Herausforderungen.

Ziele statt Träume

Vor acht Jahren fand das Trio Oreade zusammen, in dem auch Ursulas Orchesterkollegin Yukiko Ishibashi spielt, die Formation gewann Wettbewerbe und feiert Erfolge. Beim Triospiel beschäftigt Ursula die Freiheit der Interpretation. «Wir haben uns in die Interpretationen von Mozart und Beethoven wirklich hineingekniet. Die musikalische Freiheit vergleiche ich gerne mit dem Vortrag eines Gedichts, das ja auch in einem Rhythmus geschrieben ist, aber erst lebendig wird, wenn man es frei vorträgt.» Die Interpretation beginne beim Studieren der Quellen in der Zentralbibliothek. Das angelesene Wissen inspiriere die kreative Probenarbeit, die trotz allem Knochenarbeit bleibe.

In einem Konzert vor einigen Jahren sass der Präsident der Stradivari-Stiftung Habisreutinger im Publikum. Überraschend kam er nach dem Konzert auf die drei Musikerinnen zu und fragte, ob sie je eine Stradivari als Leihgabe spielen wollten. So kam Ursula zur Bratsche Gibson von 1734, «ein Glücksfall für mich. Ich hätte nie damit gerechnet, jemals eine so wertvolle Rarität spielen zu dürfen.»
Die musikalische Herausforderung, die sie so liebt, biete ihr auch Paavo Järvi. «Was mir am neuen Chef besonders gut gefällt, ist seine musikalische Freiheit. Immer wieder nimmt er musikalische Kurven in einem Tempo, das so nicht geprobt war, man muss wachsam sein» langweilig werde einem so garantiert nie. «Diese Freiheit bei Paavo Järvi zu finden, freut mich im Konzert oft so, dass ich beim Spielen lachen muss.»

Ursula erzählt von ihrer Familie, vom Mann, den ihr eine Orchesterkollegin damals mit klaren Absichten vorgestellt hatte. Gemeinsam geben sie die Freude an der Musik an ihre Kinder weiter. Die beiden Söhne zehren heute noch von ihren Jahren bei den Zürcher Sängerknaben, die drei Töchter fahren jedes Jahr begeistert mit Geige, Bratsche und Cello ins Musiklager.
Ein besonderes Glanzlicht bot der Heilige Abend in diesem Jahr trotz der widrigen Umstände. Schön war das Zusammensein, klar, gemeinsam ein Menü wählen und kochen. Besonders aber freut sich Ursula, dass sie dieses Jahr zum ersten Mal mit den Töchtern im hauseigenen Streichquartett spielen konnte: «Nach den obligatorischen Weihnachtsliedern dann noch Haydn.» Die Grosseltern in Tirol wurden live zugeschaltet. Nach noch unerfüllten Träumen gefragt, muss Ursula überlegen. Vielleicht ein Label, das ihr solistisches Jahreswerk auf Spotify veröffentlicht? Oder ein Auftritt in den heiligen Hallen der Kammermusik, der Londoner Wigmore Hall? «Es wäre schön, sagt Ursula, wenn aus den Träumen Ziele würden.»

veröffentlicht: 29.12.2020