Porträt

Tausend Pläne im Gepäck

Dreissig Jahre lang war Mischa Greull Solohornist im Tonhalle-Orchester Zürich. Nun verabschiedet er sich. Nicht von seinem Beruf, aber vom Orchester, das ihm zu einer zweiten Familie geworden ist. 

Melanie Kollbrunner

Mischa Greull trinkt Kaffee in einer Probenpause und plaudert, als laufe gerade irgendeine Probe in irgendeiner Woche. Dabei ist es seine letzte Probenwoche im Tonhalle-Orchester Zürich nach drei Jahrzehnten als Solohornist.

«Es gibt keinen Grund, sich nicht voll und ganz auf die Musik einzulassen, wenn ich im Dienst bin», sagt er, «auf der Bühne klammern wir alles Private aus» – das gelinge ihm mittlerweile recht gut. Diese Art Fokus sei eine Schulung, die er als Berufsmusiker durchlaufen habe: Der performative Fokus. «Wir alle haben ein Leben ausserhalb des Orchesters, das auf der Bühne ausgeklammert werden muss. Man kann das üben.»

Wenn er sich beim Spielen darauf konzentriere würde, dass dies seine letzte Woche sei, dann würde er natürlich schon abschweifen, «es ist sehr emotional, Abschied zu nehmen». Ein Prozess, der schon eine ganze Weile andauert: Ein Orchester wie dieses, eine Stelle wie seine, ein Umfeld, das ihm ans Herz gewachsen ist und ein Ort, den er Jahr ein, Jahr aus immer gerne betreten hat: «All' dies lässt man nicht unüberlegt zurück.»

Menschen unterwegs begleiten

Mischa ist das Gegenteil von unüberlegt, wägt jede Entscheidung gründlich ab und überstürzt nichts. Gerade hat er seine Professur an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) um die Leitung der Blechbläser*innen erweitert. Zudem hat er ein Studium in Musikphysiologie absolviert, auch in diesem Fach unterrichtet er.

Alle drei Aspekte des Unterrichtens bereiten ihm Freude: Seine eigenen Student*innen, die nach wie vor das Herzstück seiner Anstellung sind: «Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten ist mir ein immer wichtigeres Anliegen geworden», sagt Mischa.

Die Leitungsfunktion, die neben der Betreuung des Personals (es sind dreizehn Lehrpersonen, die Blechblasinstrumente unterrichten an der ZHdK) die Sicherung der Qualität beinhaltet sowie die Leitung aller Auf-, Zwischen- und Abschlussprüfungen. Mischa hat neulich ein Coaching zum Thema Führung durchlaufen, davon habe er sehr profitiert. Er hat gelernt, dass er einen fragenden, integrativen Führungsstil pflege, was an seinem Wesen als Teamplayer liege.

Ein Tabu, das es zu brechen gilt

Auch das Unterrichtsfach Musikphysiologie ist Mischa wichtig: Ein weites Feld, in dem Zürich eine Vorreiterrolle einnimmt: Seit vierzig Jahren wird hier wissenschaftlich gearbeitet in diesem Bereich, auch in der Forschung. Und doch sind Beschwerden bei Musiker*innen laut Mischa noch immer ein allzu grosses Tabu: «Probleme und eine so schöne Sache wie Musik wollen nicht recht zueinander passen. Niemand möchte beispielsweise darüber sprechen, dass er oder sie Medikamente braucht, um mit dem Lampenfieber und dem hohen Druck auf der Bühne umzugehen.»

Der psychologische Aspekt ist aber nur ein Teil vom Ganzen, es geht in der Musikphysiologie um Haltung, um Atmung, um das richtige Üben. Man sei als Musiker*in sich zu sehr selbst überlassen, sagt Mischa und zieht den Vergleich zum Spitzensport: «Da hat jeder und jede einen ganzen Stab um sich. Fünf oder zehn Personen, Physiotherapeutinnen, Masseure, Mentalcoaches, Strateginnen und so weiter», er wolle die Situation in der Musik verbessern.

Unterwegs nach Südkorea das Herz verschenkt

Und das eigene Hornspiel will er auch in Zukunft auf keinen Fall vernachlässigen, weder kammermusikalisch noch im Orchester: Er spielt in Gstaad im Festival-Orchester mit und auch in Südkorea wird er im Orchester anzutreffen sein. «Es gibt Anfragen, die immer wieder kommen, die ich aber bisher nicht annehmen konnte, weil die Zeit nicht gereicht hat.»

Die Zeit wird wohl nie für alle Ideen und Engagements reichen, denen Mischa nachgeht: Zusammen mit seiner Frau hat er eine Künstler*innen-Agentur in ihrer Heimat Südkorea gegründet, auch da will er künftig eine aktivere Rolle einnehmen. «Seung-Yeun ist skeptisch, ob das alles am Ende so viel lockerer aufgeht als jetzt», sagt Mischa, «ich muss da ein bisschen streng sein mit mir».

Mit Seung-Yeun Huh, der Pianistin und Prorektorin an der Musikschule Konservatorium Zürich (MKZ), ist Mischa verheiratet, auch mit ihr musiziert er liebend gerne. Sie hat ein Ensemble, in dem er mitgespielt hat, nach Südkorea eingeladen und auf der Reise näherte er sich seiner heutigen Liebe an.

Dranbleiben, justieren, weiterkommen

Aus erster Ehe hat Mischa zwei erwachsene Kinder, er ist bereits Anfang zwanzig Vater geworden. Sein Sohn arbeitet als Berater im Personalwesen, die Tochter ist Coiffeuse mit Spezialgebiet Färben, aber Mischa meint, es wäre nicht altersgerecht, ihn mit seinem Jahrgang als Modell zu verwenden. Vor etwa zwanzig Jahren aber, da hat er sich mit einem Register-Kollegen die Haare blondiert. Ein Jux? «Eher eine Lebenskrise», sagt Mischa und lacht.

Mischa selbst ist in Basel in eine Musikerfamilie hineingeboren worden, und am Thunersee aufgewachsen. Er hat keine Geschwister, dafür viele jüngere Halbgeschwister. Zur Musik hat er schon im Vorschulalter gefunden: Bei seinem Vater hat er Klavierunterricht bekommen. Dieser hat Klavier, Flöte, Komposition und auch Dirigieren studiert, er hat sich auch schauspielerisch betätigt. «Ein Multitalent», sagt Mischa. «Er ist im Grunde das Gegenteil von mir, ein freigeistiger Generalist.» Ihm genüge ein einziges Instrument, die Möglichkeit, sich zu vertiefen. Dranbleiben, justieren, weiterkommen: Mischa sagt, er sei kein Schneller, aber ein Beharrlicher.

Von seiner Mutter hat er das Medizinische, das Pädagogische mit auf den Weg bekommen, in ihrer Familie sind alle Ärzte, sie selbst war in der Musiktherapie tätig. Jetzt sind die Eltern pensioniert.

Eine grosse Sache als Opfer für Freiräume

Zum Horn hat Mischa später gefunden, er war zehn und wollte damals eigentlich Bergsteiger oder vielleicht Schreiner werden: Seine Eltern haben ihn in Bern ins Konzert mitgenommen, da wurde Mozarts Hornkonzert gegeben. Das hat ihn überzeugt. Noch heute liebt er den Klang, dessen Farben, die Tiefgründigkeit und die vielen Facetten.

«Ich habe es auf die Spitze getrieben mit allem», das sei ermüdend auf die Dauer. «Eine grosse Sache musst du jetzt abgeben», habe er sich gesagt. Loszulassen sei ein Prozess, der mit den ersten Abwägungen eingesetzt habe und andauere. Dass er sich weiterentwickeln will, hat nicht etwa damit zu tun, dass er genug von «dieser riesengrossen Familie» hat, wie er das Orchester nennt, sondern damit, dass ihm sein Instrument und alle Tätigkeiten, die er darüber hinaus damit verbindet, am Herzen liegen. Im Orchester spielt man bis zur Pensionierung, Mischa ist ein 1969-er Jahrgang und will seiner Karriere nochmals eine Wendung geben, sich Raum für seine vielen Aktivitäten verschaffen, wie er sagt. Solche, die er vielleicht bis weit ins Rentenalter verfolgen könne, aber daran will er noch lange nicht denken. Jetzt will er seine neuen Freiräume, seine Zukunft gestalten.

published: 20.06.2023