Experimentelle Klage
Haydns Sinfonie «Lamentatione» wird seltener aufgeführt als andere seiner Werke. Dabei ermöglicht sie einen spannenden Einblick in die Welt des Wiener Klassikers.
Haydn, Mozart, Beethoven – so lauten die Namen der drei grossen Wiener Klassiker. Als sich Ersterer im Alter von 25 Jahren dem Komponieren von Sinfonien zuwandte – der Königsgattung, die mit der Epoche assoziiert wird –, war von den anderen beiden noch nichts zu ahnen: Mozart war gerade ein Jahr alt, Beethoven noch nicht einmal geboren. «Papa Haydn» hat sich bis zu seinem Tod dem Schreiben von Sinfonien gewidmet, insgesamt sind 104 aus seiner Feder überliefert. Dabei hat er die Gattung entscheidend geprägt: Während die klassische Sinfonie in ihren Anfängen kaum mehr als eine Hintergrundmusik für die aristokratische Elite war, wurde sie durch Haydn zu einem vollwertigen Orchesterwerk, an deren Aufführung ein grosses, zahlendes Publikum teilnahm.
Von 1761 bis 1790 stand Haydn als Hofmusiker, Kapellmeister und Komponist im Dienst der Fürsten Esterházy. Für deren Kapelle verfasste er eine Vielzahl von Werken – so auch einen Grossteil seiner Sinfonien – unter idealen Bedingungen, die es ihm ermöglichten, sich zu entfalten, wie er selbst feststellte: «Ich war von der Welt abgesondert, Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen.» Im ersten Jahrzehnt seiner knapp 30-jährigen Anstellung schrieb Haydn 1768 seine Sinfonie d-Moll Hob. I:26, die unter dem Titel «Lamentatione » bekannt wurde. Die originale Handschrift des Werks gilt als verschollen, es ist deshalb nicht ganz sicher, ob es tatsächlich dreisätzig angelegt war (wie es überliefert wurde) oder ob einst ein Finale existierte. In der erhaltenen Form hat die Sinfonie eine Spieldauer von gerade einmal 20 Minuten. Das mag auf den ersten Blick kurz erscheinen, war aber während dieses Entwicklungsstadiums der Gattung keinesfalls ungewöhnlich.
Geistliche Zitate
Viele der Sinfonien Haydns tragen Beinamen, die entweder vom Komponisten selbst oder von seinen Zeitgenossen stammen – oder erst von der Nachwelt vergeben wurden. Die 26. Sinfonie erhielt ihren schon zu Haydns Lebzeiten. Dennoch ist nicht sicher, ob er von ihm stammt. Das Werk entstand in einer Zeit, als Haydn noch mit der sinfonischen Gattung experimentierte, insbesondere mit Moll-Tonarten. Der Titel «Lamentatione» bezieht sich auf das Zitat einer gregorianischen Gesangsmelodie im zweiten Satz.
Eine solche Verwendung von bereits vorhandenem Material, ganz zu schweigen von liturgischem Material, ist in einer Sinfonie schon ungewöhnlich genug; aber der erste Satz ist noch aussergewöhnlicher: Man könnte ihn als eine musikalische Darstellung der Passion Christi in einem einsätzigen Format betrachten. Er enthält Gesänge aus einer vermutlich aus dem Mittelalter stammenden «Markus-Passion», die damals in Österreich populär war und heute noch gesungen wird.
Schrieb Haydn also eine Sinfonie für den Gottesdienst? Darüber streiten sich die Gelehrten immer noch. Klar ist jedoch: Haydn entwickelte die Sinfonie mit solchen Experimenten weiter. Und obwohl er die Gattung nicht erfand, kam er so zu seinem Titel als «Vater» der Sinfonie.
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«Mein Fürst war mit allen meinen Arbeiten sehr zufrieden, ich erhielt Beyfall, ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen; ich war von der Welt abgesondert, Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich original werden.»
Joseph Haydn über den Fürsten Esterházy in einem Brief an seinen Biografen Georg August Griesinger