Welches Klavier spielt ganz allein?
Im Konzertfoyer der Tonhalle Zürich steht derzeit ein Steinway spirio, der auch ohne Pianist*in musiziert.
Kein Mensch, nirgends, nur ein Flügel steht da. Die Tasten und Pedale bewegen sich von selbst, wie von Geisterhand beziehungsweise -fuss bedient. Aber wer genau hinhört, wird aufhorchen: So spielt doch Lang Lang! Und das müsste der Jazzpianist Art Tatum sein!
Sie sind es, tatsächlich. Für den Steinway spirio, der derzeit in unserem Konzertfoyer steht, gibt es eine ständig wachsende Bibliothek von Interpretationen, die der Flügel reproduzieren kann. Damit zeigt das Instrument nicht nur, was die Technik heute zu bieten hat; es setzt auch fort, was vor vielen Jahrzehnten schon begonnen hat.
Denn so surreal ein selbstspielendes Instrument wirken kann, so verständlich ist der Wunsch danach. Wer sich je an ein Klavier gesetzt hat, weiss es: Bis das Ding so tönt, wie man sich das vorstellt, braucht es enorm viel Zeit, Geduld, Energie und Frustrationstoleranz (vom Talent ganz zu schweigen). Kein Wunder, versuchte man schon früh, den Klang so abzuspeichern, dass er ohne pianistisches Können in Betrieb gesetzt werden kann. Eine Möglichkeit dafür waren Aufnahmen: Die erste entstand am 9. April 1860, dank einem sogenannten Phonautografen, der aus einer Membran am Boden eines Eimers bestand, auf der eine Schweinsborste russgeschwärztes Papier kratzte.
Jeder Ton ein Loch
Seither hat sich aufnahmetechnisch einiges getan, das Knistern und Rauschen ist längst Vergangenheit. Aber selbst modernste Technik kann nichts daran ändern, dass eine Einspielung nicht das Original ist; dass ein echtes Klavier plastischer, farbiger, präsenter klingt als die digital komprimierten Klangdaten. Das Ideal, so dachte man deshalb bereits im 19. Jahrhundert, wäre also ein selbstspielendes Klavier. Das braucht zwar ein bisschen Platz in der guten Stube; aber dafür erhält man den vollen Klang – und im Idealfall sogar eine hochkarätige Interpretation.
Dieser Idealfall existiert nun schon eine ganze Weile. 1897 kam in den USA das erste Pianola auf den Markt, ein paar Jahre später wurde das System mit den deutschen Welte-Mignon-Klavieren perfektioniert. In diese Instrumente konnten sogenannte Notenrollen eingelegt werden, meterlange Papierbänder mit Lochungen, welche die musikalischen Informationen codierten. Und weil sich neben den Tonhöhen auch die Anschlagsdynamik und der Einsatz des Pedals auf das Lochpapier übertragen liessen, konnten diese Instrumente alle Nuancen einer Interpretation wiedergeben.
Rund 15 Minuten Musik konnte auf einer Rolle gespeichert werden, und viele grosse Namen haben sich in Lochmustern verewigt: Claude Debussy, Edvard Grieg, Ferruccio Busoni, George Gershwin – von ihnen allen und vielen weiteren sind Interpretationen erhalten. Und Paul Hindemith war durchaus nicht der einzige, der für ein Welte-Mignon-Klavier ein Werk komponierte, das von Hand nicht spielbar gewesen wäre, aber mit Notenrollen problemlos «programmiert» werden konnte.
Live-Konzert auf dem eigenen Flügel
Heute haben diese Notenrollen ausgedient, die Digitalisierung hat auch diesen Bereich erfasst. Und selbst ein Traditionsunternehmen wie Steinway konnte sich dem Reiz der neuen Möglichkeiten nicht entziehen. Die bereits erwähnten Reproduktionen von eingespielten Interpretationen waren nur der Anfang: Es gibt inzwischen auch Steinway-spirio-Modelle, die Konzerte live streamen können; der eigene Flügel spielt also dann ein Konzert, das in diesem Moment ganz woanders stattfindet.
Auch eigene Interpretationen kann man inzwischen speichern und beliebig oft wieder abspielen. Das ist vielleicht das Schönste an diesem System: Dass man auch diese Flügel immer noch selbst spielen kann.
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Der Steinway spirio steht noch bis am 28. November im Konzertfoyer der Tonhalle Zürich; an folgenden Daten wird er jeweils vor den Abendkonzerten vorgeführt: