Mahlers Sinfonie Nr. 2 im Festspielhaus-Baden-Baden. Foto: Michael Gregonowits.
Mahler-Residenz

Das war die erste Runde in Baden-Baden

Das Tonhalle-Orchester Zürich hat im Festspielhaus zwei Mahler-Sinfonien gespielt – zum Auftakt einer längeren Zusammenarbeit.

Susanne Kübler

Wo nur nehmen wir die Achte auf? Diese Frage stellt sich fast jedem Orchester, das einen Mahler-Zyklus aufführen und einspielen möchte. Denn die Sinfonie Nr. 8, auch bekannt als «Sinfonie der Tausend», sprengt mit ihrer riesigen Besetzung die räumlichen Verhältnisse der meisten Konzertsäle – auch jene der Tonhalle Zürich.

Wo also nehmen wir die Achte auf? Die Antwort fand sich vor einem guten Jahr, und sie hatte Folgen: Denn im Festspielhaus Baden-Baden, das mit 2500 Plätzen das grösste Opern- und Konzerthaus in Deutschland und nach der Bastille-Oper das zweitgrösste in Europa ist, wird nicht nur dieses Werk eingespielt werden. Sondern das Tonhalle-Orchester Zürich präsentiert im Rahmen einer auf drei Jahre angelegten Residenz schon davor einen grossen Teil des Mahler-Zyklus in diesem Saal.

Deshalb fuhren also vor ein paar Tagen mehrere Busse von Zürich nach Baden-Baden – die einen beladen mit Instrumenten, die anderen mit Musikerinnen und Musiker. Für die erste Runde der Residenz hatte man die Mahler-Sinfonien Nr. 1 und 2 im Gepäck. Und schon vor der Anspielprobe war klar, dass die Grösse des Saales sich auch hinter der Bühne spiegelt: Dort, wo normalerweise Opernkulissen auf ihren Einsatz warten, reihten sich nun die Instrumenten-Cases. Platz zum Einspielen gab es im Barkett und zwischen den Cases ebenfalls mehr als genug. Und klar: Auch für das Schachbrett der Kontrabassisten fand sich eine Ecke.

Einspielen in Baden-Baden: Paulo Muñoz-Toledo.
Schach spielen in Baden-Baden: Oliver Corchia und Kamil Łosiewicz.
Einspielen in Baden-Baden: Diego Baroni.
Alican Süner.
Einspielen in Baden-Baden: Sabine Poyé Morel.
Filipe Johnson mit Orchestertechniker Elvin Bekir.

Aber beginnen wir von vorn, also beim Eingang. Wer ins Festspielhaus Baden-Baden kommt, findet sich erst einmal in einer üppig bemalten Schalterhalle wieder. Rechts oben findet sich in einer Vignette die Jahreszahl 1895: Damals wurde nicht nur die Tonhalle Zürich eröffnet, sondern auch der Bahnhof, zu dem diese Halle gehörte. «Fahrkarten» steht in mattgoldener Schrift denn auch nach wie für über den Schaltern. Aber die Billette, die man hier kauft, werden vom Zugpersonal längst nicht mehr akzeptiert – sie gelten ausschliesslich für musikalische Reisen.

Denn dort, wo sich früher die Gleise befanden, steht seit 1998 das Festspielhaus. Über das ehemalige Perron 1 gerät man in ein weiträumiges Foyer und von dort in den Saal, der vor seiner Eröffnung heftig zu reden gab. Wie nur sollen so viele Plätze gefüllt werden in einem Städtchen mit rund 50'000 Einwohnern? Die Skepsis war gross, aber man hielt sich an ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti, das nun auf einer Tafel im Foyer hängt: «Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen?»

Der alte Bahnhof von Baden-Baden wurde 1895 eingeweiht – genau wie die Tonhalle Zürich.
Vignette in der Schalterhalle des alten Bahnhofs.
Wo früher das Perron zu Gleis 1 war, befindet sich heute der Künstlereingang.
In den Innereien des Festspielhauses.
Falls es etwas zu flicken gibt ...
Hydraulik unter der Bühne.
In jedem Konzerthaus zentral: Die Lüftung!

Das Risiko hat sich gelohnt. Es läuft gut im Festspielhaus Baden-Baden, das Stammpublikum reist aus Freiburg, Frankfurt und Strassburg an, und viele kommen auch von weiter her, um zu sehen und zu hören, was hier geboten wird. Das Haus hat zwar kein eigenes Orchester, aber dennoch ein eigenes Programm: Grosse Opern- und Ballettproduktionen entstehen für diese Bühne, und auch beim Konzertprogramm setzt man auf klingende Namen. Die Berliner und die Wiener Philharmoniker, das SWR-Sinfonieorchester und das Concertgebouw Orchestra sind hier regelmässig zu Gast. Und nun eben auch das Tonhalle-Orchester Zürich.

Nur gerade eine kurze Anspielprobe ist möglich, bevor das erste Konzert beginnt. «Wir sind Profis, da geht das», sagt der Cellist Mattia Zappa. Das Orchester lebt nun schon seit Wochen mit diesen Mahler-Sinfonien, nach den Konzerten und Aufnahmen in Zürich hat man sie im ausverkauften Wiener Musikverein gespielt (nach Baden-Baden führte die Tour weiter nach Köln und Paris). Und dann ist da auch noch Paavo Järvi, der schon in allen erdenklichen Sälen dirigiert hat und sehr schnell merkt, was es braucht. Hier braucht es viel, die Akustik auf der Bühne ist ziemlich trocken. «Wir hören uns in der Stimmgruppe sehr gut, aber es ist schwierig, den Kontakt zu anderen Registern herzustellen», meint die Geigerin Ulrike Schumann-Gloster nach dem Konzert, und andere erzählen Ähnliches.

Im Saal merkt man wenig davon. Der Klang ist warm und rund, und die vielen Details, die zu hören sind, stehen keineswegs isoliert nebeneinander. In Mahlers Sinfonie Nr. 1 prallen die verschiedenen Klangwelten unmittelbar aufeinander, und in der Sinfonie Nr. 2 verbinden sich der Orchesterklang, der Chorklang der Zürcher Singakademie und die Stimmen von Mari Eriksmoen und Anna Lucia Richter so überzeugend, dass sich das Publikum im fast ausverkauften Riesensaal zu einer Standing Ovation hinreissen liess.

Paavo Järvi und das Orchester im Festspielhaus Baden-Baden. Foto: Michael Gregonowits
Streicher*innen in Aktion. Foto: Michael Gregonowits
Die Glocken läuten in Mahlers Sinfonie Nr. 2 hinter der Bühne.
Hier warten die Blumen für die Sängerinnen Mari Eriksmoen und Anna Lucia Richter.
Durch diese Tür kommt man auf die Bühne – «Good Luck!»
Vor dem Konzert: Blick von der Bühne in den leeren Saal.

Zwischen den Konzerten herrscht derweil der übliche Tourneebetrieb. Üben, schlafen, die Stadt erkunden – die Musikerinnen und Musiker verschaffen sich jeweils sehr rasch einen Überblick über einen neuen Ort. Bereits nach dem ersten Konzert gibt’s Pizza hinter der Bühne: Die Pizzeria gleich neben dem Festspielhaus verkauft rekordverdächtig grosse Exemplare, das haben einige sehr schnell herausgefunden. Und am Morgen erkunden andere die schönste Jogging-Strecke der Stadt, die Lichtentaler Allee: «Da kommt man bis zum Brahms-Haus».

Brahms-Haus? Genau: Baden-Baden ist nicht nur eine Bäder-, Casino- und Weihnachtsmarkt-Stadt, sondern bereits lange vor der Eröffnung des Festspielhauses auch eine Musik-Stadt. Brahms hatte sie einst entdeckt, als er Clara Schumann hier besuchte, die nach Robert Schumanns Tod hierhergezogen war. Hector Berlioz leitete über viele Jahre die Sommerfestspiele in Baden-Baden, seine Oper «Béatrice et Bénédict» wurde im hiesigen Theater uraufgeführt. Heute ist eine Parkanlage (inklusive Spielplatz) neben dem Festspielhaus nach ihm benannt. Es gibt ein Amadeus-Café, ein Hotel Sonata – und wie gleich neben der Tonhalle Zürich auch eine Beethoven-Strasse.

Steigt man vom Zentrum aus ein paar Minuten den Hügel hoch, kommt man zudem zu jener von einem grossen Park umgebenen Gründerzeit-Villa, in der von 1959 bis zu seinem Tod 2016 der Komponist und Dirigent Pierre Boulez gelebt hat. Im Festspielhaus hängt ein grosses Porträt von ihm, die Pfingstfestspiele waren in diesem Jahr – in dem er seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte – ihm und seinem Werk gewidmet. Der Plan, seine Villa in ein Künstlerhaus umzuwandeln, ist allerdings gescheitert. Sie wurde verkauft, heute stehen andere Initialen beim Eingang.

Dass wir auf dem Rückweg ins Zentrum an einem Auto mit dem Kennzeichen RA-CZ vorbeikommen, ist zweifellos ein Zufall. Aber in dieser Musikstadt darf man das durchaus auch als Hommage an unseren Solo-Fagottisten verstehen.

Ist das eine Hommage an unseren Solo-Fagottisten Matthias Rácz?
Ein Spielplatz für Hector Berlioz.
In dieser Villa lebte Pierre Boulez.
Boulez-Porträt im Festspielhaus Baden-Baden.
Ein Hausbräu für Mozart.
Über dem Löwenbräu-Keller spielt in der Adventszeit ein etwas anderes Orchester ...

Das Gastspiel in Baden-Baden sowie die ganze Tournee nach Wien, Köln und Paris wurden unterstützt von Merbag.

veröffentlicht: 02.12.2025