Cristian Măcelaru (Foto: Radio France, Christophe Abramowitz)
Porträt Cristian Măcelaru

Am Anfang war ein Missverständnis

Die Karriere des rumänischen Dirigenten Cristian Măcelaru wurde durch zwei Zufälle geprägt – und durch unseren Ehrendirigenten David Zinman.

Susanne Kübler

«Cristi, das Tempo muss stimmen, dann funktioniert alles andere ebenfalls»: Das hat David Zinman bei seinen Sommerkursen in Aspen jeweils zu seinem Schüler Cristian Măcelaru gesagt. Das, und praktisch nichts anderes: «Er sprach eigentlich nie», erzählt Măcelaru im vergangenen Mai nach einer Probe in der Tonhalle Zürich, «aber ich habe enorm viel von ihm gelernt – von seiner Präzision beim Dirigieren, von seinem Respekt vor den Partituren, von der schlichten Raffinesse seiner Gesten». Zwei Jahre lang hat er Zinmans Sommerkurse besucht, 2008 und 2009, «damals war ich bereits Ende zwanzig, ich war spät dran als Dirigent, doch es war genau richtig so». Auch sonst ist vieles in seiner Karriere «genau richtig» gelaufen: manchmal nach Plan. Und in entscheidenden Momenten rein zufällig.

Der erste Plan stammte von Cristian Măcelarus Vater, der selbst gerne Musiker geworden wäre. Aber der rumänische Militärdienst, der zweieinhalb Jahre dauerte, kam dazwischen, und danach begann die Familie zu wachsen: Zehn Kinder waren es am Ende, da lag ein Studium nicht mehr drin. So blieb er ein leidenschaftlicher Amateurmusiker, und dass seine Kinder ein Instrument spielen sollten, war klar. Cristian, mit Geburtsjahrgang 1980 der Jüngste von ihnen, ist nicht der Einzige, der die Musik zum Beruf gemacht hat: «Gerade kürzlich habe ich in Barcelona dirigiert, dort sass eine meiner Schwestern im Orchester.» Und wer weiss, vielleicht gibt es irgendwann einen Auftritt des Măcelaru-Ensembles: «Mit allen unseren Kindern wären wir inzwischen rund 45 Leute auf der Bühne!»

Er selbst lernte Geige, und er war begabt. So begabt, dass man ihm als Teenager riet, sich für einen Sommerkurs im amerikanischen Interlochen zu bewerben. Hier spielte nun der erste grosse Zufall: Er erwischte nämlich das falsche Anmeldeformular – nicht jenes für den Sommerkurs, sondern jenes für einen Studienplatz, den er tatsächlich erhielt, inklusive einem vollen Stipendium. So stieg er mit 17 Jahren zum ersten Mal in ein Flugzeug, ohne Rückflugticket: Aus dem Missverständnis war der Anfang eines neuen Lebens geworden.

Cristian Măcelaru studierte also Violine in Interlochen, wurde mit 19 Jahren Konzertmeister in Miami, wechselte später ins Orchester von Houston – und träumte vom Dirigieren, «weil es das Schönste ist, und weil ich so viele uninspirierte Dirigenten erlebt habe». Am schlimmsten fand er es, wenn sich einer Freiheiten gegenüber der Partitur herausnahm; wenn etwa die Lautstärkenbezeichnungen bei Bruckner «korrigiert» wurden, war das für ihn «ein kleines Sakrileg, weil ich wusste, dass da etwas Sinnvolles zerstört wird». Für ihn ist eine Interpretation dann perfekt, wenn alle auf der Bühne verstehen, was warum in der Partitur steht – und dies so umsetzen können, dass es auch dem Publikum einleuchtet.

Partiturlesen mit Boulez

Hier ist nun der zweite Zufall zu erwähnen, nämlich jenes Konzert des Chicago Symphony Orchestra im Jahr 2012, bei dem Cristian Măcelaru für Pierre Boulez einsprang. Das sei sein Durchbruch gewesen, heisst es in vielen Artikeln über ihn, doch er winkt ab: Er habe bereits vorher grosse amerikanische Orchester geleitet, «entscheidend war etwas ganz anderes: Dass ich dabei mit Boulez in Kontakt kam». Dieser konnte damals wegen einer Augenoperation nicht dirigieren, er sass aber in jeder Probe, besprach die Werke mit Măcelaru, «und bald redeten wir auch über andere Partituren». Der Kontakt blieb bestehen, als das Konzert in Chicago schon längst vorbei war, «und dank Boulez habe ich meine Art, Partituren zu lesen, komplett verändert».

Früher, so erzählt Măcelaru, habe er jeweils zunächst die Struktur eines Werks analysiert. Für Boulez war diese Struktur dagegen das, was man erst dann erkennt, wenn alles andere klar geworden ist: «Bei einem Buch schaut man ja auch nicht zuerst, wie viele Kapitel es hat, man beginnt beim ersten Satz. Genau so las Boulez Partituren, immer und immer wieder – bis sich das grosse Ganze klärte.» In der Folge hat Măcelaru seine Arbeitsweise ebenfalls «auf den Kopf gestellt».

Gerne würde er auch die Arbeitsweise der Orchester verändern. Er träumt davon, dass auf den Notenpulten nicht nur die einzelnen Stimmen liegen würden, sondern die ganzen Partituren, «die technischen Möglichkeiten dazu wären inzwischen vorhanden. Und es ist so wichtig, dass alle den Kontext verstehen, in dem sie spielen!» Wer muss in einer bestimmten Passage auf wen hören oder reagieren? Wie laut darf ein Fortissimo sein, damit man die anderen nicht übertönt? Wo kommt die Musik her, wo führt sie hin? Diesen Kontext will er in den Proben vermitteln, «99 Prozent der Zeit verwende ich dafür».

Einbinden statt urteilen

Er tut es mit Erfolg, als einer der gefragtesten Dirigenten seiner Generation. Bis Juli 2025 war er Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters, sein Vertrag als Musikdirektor des Orchestre National de France läuft noch bis 2027. Und nun übernimmt er neu das Cincinnati Symphony Orchestra – als Nach-Nachfolger von Paavo Järvi. Fragt man nach seinen Plänen, erwähnt er «eine Kleinigkeit, die aber viel bewirkt»: Wer in Cincinnati nach bestandenem Probespiel ins Orchester kommt, hat keine «trial period», also kein Probejahr vor sich, sondern laut Vertrag eine «integration period». So wechsle die Perspektive vom Urteilen aufs Einbinden, vom Kritischen zum Positiven, «das verändert die Atmosphäre im ganzen Ensemble».

Gut möglich, dass ihm solche Details darum wichtig sind, weil er als Geiger erlebt hat, wie sich ein Start in einem neuen Orchester anfühlt. Diese Erfahrungen sind die Grundlage für alles, was er tut; ein Dirigent, der kein Instrument professionell spielt, habe auf dem Podium nichts zu suchen, sagt er: «Man muss wissen, wie es ist, dirigiert zu werden.» Das prägt auch die Konzertvorbereitung in Zürich: Am Tag des Gesprächs beendete Măcelaru die Probe für Bartóks «Der holzgeschnitzte Prinz» über eine Stunde früher als vorgesehen. Nicht, weil schon alles perfekt gewesen wäre, «sondern weil es ein komplexes Werk ist: Da kommt man an einen Punkt, an dem man das Gehörte absorbieren und verarbeiten und die Partien noch einmal allein üben muss.» Dass seine Taktik aufging, zeigte die Kritik in der NZZ nach dem Konzert, in der von einem «packenden Hörabenteuer» die Rede war.

Gast und Gastgeber

Măcelarus eigenes erstes Hörabenteuer mit dem Tonhalle-Orchester Zürich fand übrigens in Aspen statt. David Zinman brachte die noch unveröffentlichte Aufnahme von Mahlers Sinfonie Nr. 6 in den Sommerkurs mit, «danach habe ich mir alles angehört, was das Orchester eingespielt hat».

In der neuen Saison hat er nun gleich doppelt mit den Zürchern zu tun: Einerseits hat er sie erneut ans George Enescu International Festival in Bukarest eingeladen, das er als Künstlerischer Leiter betreut. Andererseits wird er zum dritten Mal in der Tonhalle Zürich dirigieren. Auf dem Programm stehen das Klarinettenkonzert «Weathered» der englischen Komponistin Anna Clyne und Prokofjews Sinfonie Nr. 5 – eine typische Kombination für einen Dirigenten, der sich nie spezialisieren wollte: «Ich liebe es, in zeitgenössischen Werken neue Ideen und Konzepte zu entdecken, und ich liebe auch das klassische Repertoire. Deshalb mache ich ganz egoistisch alles, was ich gerne möchte.»

Er macht es auch altruistisch: etwa in Interlochen, wo er sich um das World Youth Symphony Orchestra kümmert, «um etwas zurückzugeben». Oder beim Cabrillo Festival of Contemporary Music in Santa Cruz, wo er als Künstlerischer Leiter auch Masterclasses gibt. Und letztlich in jedem einzelnen Konzert: «Ich bekomme nie genug von Musik. Und ich möchte alles tun, damit auch andere diese Kraft erleben.»

Oktober 2025
Fr 24. Okt
19.30 Uhr

Cristian Măcelaru & Martin Fröst

Tonhalle-Orchester Zürich, Cristian Măcelaru Leitung, Martin Fröst Klarinette Clyne, Prokofjew
Do 23. Okt
19.30 Uhr

Cristian Măcelaru & Martin Fröst

Tonhalle-Orchester Zürich, Cristian Măcelaru Leitung, Martin Fröst Klarinette Clyne, Prokofjew
veröffentlicht: 07.10.2025

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