Porträt

Letzter Halt: Zürich

Keine Ferien ohne Viola, kein Tag ohne Druck: Bis sich Katarzyna Kitrasiewicz-Losiewicz grosser Traum erfüllt hat, sind viele Jahre harter Arbeit verstrichen.

Melanie Kollbrunner

Kasia sitzt am Fenster. «Je n’abondonne jamais», ich gebe nie auf, könnte man in geschwungenen Lettern auf ihrem Nacken lesen, wenn kein aschblondes Haar über ihre Schultern fiele an diesem Nachmittag. Sie wendet ihren Kopf Richtung Tonhalle Maag und lacht ein bisschen spöttisch, gerade so, als würde sie ihrer eigenen Geschichte nicht trauen.

Diese Geschichte, sagt sie, habe ihren Höhepunkt am 27. Juni erreicht. Ein Donnerstag war es, um 15:12 Uhr ging eine Nachricht an das Tonhalle-Orchester und an dessen Management-Team, darin stand geschrieben: «Beim heutigen Probespiel für Bratsche tutti wurde Frau Katarzyna Kitrasiewicz-Losiewicz, 1975, gewählt.» So lautet ihr voller Name, auch wenn alle sie Kasia nennen. Sie, die man am Rande von Proben in Gespräche vertieft antrifft, die von sich sagt, dem Orchesterspiel gehöre ihr Herz, weil sie so gern Menschen möge.

«Endlich», hörte man manche freudig sagen, andere tippten ins Telefon, um zu gratulieren. Kasia selbst war mehr erschöpft als überrascht, es war über dreissig Grad warm und dies das gefühlt hundertste Mal, dass sie hinter einem Vorhang spielte. Nie hatte es ganz gereicht, Runde um Runde kam sie oft weiter in all den Jahren, aber es wollte einfach nicht klappen. «Dabei habe ich es immer gefühlt, dass ich hierher gehöre», sagt sie, schon vor zwanzig Jahren, als sie als Studentin da unten in der Mediathek der Warschauer Akademie hockte. Sie hörte sich durch eine Liste von Werken, Gehörschulung, man musste sie alle wiedererkennen auf Abruf.

Die Liste war lang, Kasia weiss heute nicht mehr, was gespielt wurde. Aber der Klang brannte sich ein und auch die Idee: «In diesem Orchester will ich spielen», sagt sie, im Tonhalle-Orchester Zürich. Das tut sie seit vielen Jahren in unter­schiedlichen Funktionen: Zuzügerin, als fallweise eingesetzte Musikerin also oder als Aushilfe, sie mochte es nicht mehr ­hören und nur noch weinen, als ihr Mann am Abend dieses heissen Junitages den Champagner entkorkte. Seit 1997 sind die beiden zusammen, «immer und überall», sagt Kasia, «auch wenn nicht immer örtlich.»

Bernhardiner, Kind und Bratsche

Nun also sitzt sie mit festem Platz mitten unter den Bratschen, er ein paar Meter neben ihr: Kamil Losiewicz ist Kontrabassist im Tonhalle-Orchester Zürich, mag Jazz und hat in Hotelbars gespielt, als die beiden gemeinsam in Warschau studierten. Auch sie spielte und putzte zudem, alles war ihr recht, wenn sie nur Musik machen konnte. Ohnehin wagte sie sich lange nicht an ihren Traum zu glauben, auch dann nicht, als Kamil und sie beide unter hunderten von Bewerberinnen und Bewerbern ausgesucht wurden, um für ein polnisches Festivalorchester mit einem Chopin-Programm zu touren. Erst, als der dortige Dirigent zu ihr sagte, sie solle sich da draussen in der Welt einen Lehrer aussuchen, sie müsse weiter. «Ich? Wählen?», erinnert sie sich. Sie tat es: Die Wahl fiel auf Wolfram Christ, den Herbert von Karajan 1978 als ersten Solobratschisten für die Berliner Philharmoniker engagiert hatte. In Berlin unterrichtete er sie kostenlos und nahm sie mit nach Freiburg, wo er eine Stelle als Professor und sie als seine Studentin annahm, einer von vielen namhaften Förderer auf ihrem Weg, etwa während ihres anschliessenden Solistenstudiums in Köln.

Kamil indessen fand eine Stelle in Lyon. Die beiden teilten sich dort mit Bernhardiner und kurz darauf mit ihrem kleinen Philippe ein Zuhause. Kasia war aber nicht daheim in dieser Stadt, das Pendeln und die chaotische Umgebung machten sie unglücklich. Sie, die es gerne geordnet hat.

Sie schaute ständig nach Stellen beim Tonhalle-Orchester Zürich. Für sich, für ihn, bis sie eine Kontrabassistenstelle fand und das Dossier ihres damaligen Verlobten zusammenschusterte. Er wurde zum Probespiel eingeladen und angenommen, das war vor dreizehn Jahren. Ein paar Monate später kam sie nach, bald waren sie zu viert, Tochter Lia kam zur Welt. Sie spielte seither immer wieder mit dem Orchester, immer wieder durchlief sie hierfür und für Festanstellungen das anspruchsvolle Bewerbungsverfahren. «Im Orchester gibt es verschiedene Menschen mit vielen Eigenschaften», sagt sie, «gemeinsam ist allen, dass sie starke Charakteren sind», wie sie. Das forme auch den Klang. Die weiche Vibration ihres Registers, der Klang darüber hinaus, für den sie sich vor zwanzig Jahren entschieden hatte, ihr Traum, den sie nie aufgegeben hat.

veröffentlicht: 09.04.2020