Porträt

Schwarz und Weiss in vielen Farben

Peter Solomon sass vierzig Jahre lang für das Tonhalle-Orchester Zürich am Klavier, an der Orgel, am Cembalo. Er war einer der Jüngsten, als er begonnen hatte. Sein letztes Konzert gab er als ältestes Mitglied, ohne zu wissen, dass dies wohl sein Abschied vom Orchester und seinem Publikum war.

Melanie Kollbrunner

Hundert Takte. Warten und staunen über die Musikerinnen und Musiker, die Peter Solomon beobachtet und bewundert, bis der Dirigierstab seinen Einsatz verlangt. «Endlos faszinierend, was da geschieht», sagt er. «Welten, die sich zwischen den Klängen und Menschen verbinden.» Er könnte dieses Spiel ewig weiterspielen: Sich ein- und unterordnen, dann, im richtigen Moment zum Vorschein treten. Führung übernehmen, um sie in der nächsten Sekunde abzugeben: Das sei das Leben eines Orchestermusikers – sein Leben eben. Agil und geschmeidig.

Milde eigenwillig

Mitten im Corona-Lockdown geht Peter in Pension. Er ruft aus seinem Winzerhaus in Ligerz über dem Bielersee an, das er vor einem Jahr übernommen hat, um es selbst zu sanieren. Mit Postkartenpanorama im Rücken erzählt er, dass er immer einen Fuss in Zürich und einen ausserhalb hatte. Lange Zeit war dieser eine Fuss auf einer Alp in Nidwalden. Im Garten zwölf Pfauen, die er mit seinen Kindern züchtete. Störrische, aber herrliche Viecher seien das, sagt er. Peter liebt alle Tiere. Müsste er seinen eigenen Charakter einem zuordnen, dann wäre er eine Hauskatze: «Milde eigenwillig». Im Winter bretterte er während Jahren mit den Skiern ins Tal, stieg da in sein Auto und fuhr Richtung Tonhalle Zürich.

In der Stadt hatte er immer ein pied-à-terre, mittendrin im Kreis vier, in Gehdistanz zur Tonhalle Maag und zur Zürcher Hochschule der Künste, wo er eine Professur für Orchesterklavier, Kammermusik und Korrepetition innehat. Der Brite ist nach seinem letzen Konzert mit dem Orchester, in dessen Dienst er fast sein ganzes Erwachsenenleben gestellt hatte, Schweizer geworden. «Man hört es vielleicht nicht», sagt er mit unverkennbarem Akzent, «aber ich bin hier angekommen.» Wurzeln schlage man unmerklich über die Jahre hinweg. Und dann, wenn Kollegen fragen, ob er nun für die Zeit des Ruhestands zurückzugehen plane, dann fragt sich Peter, wohin denn zurück bedeuten würde: «Man erkennt die Wurzeln, wenn sie sich schon tief in den Boden gegraben haben.» Dabei war Zürich ein zufälliger Zwischenhalt, die Schweiz ein Land auf der Durchreise.

Kernphysik und Kathedralen

Peter Solomon ist in Südengland aufgewachsen, im malerischen Cornwall, hat seine Kindheit auf Segelboten und Surfbrettern verbracht. Und am Flügel: Erst kurz vor ihrem Tod hat ihm seine Mutter verraten, dass sie es einfach nicht übers Herz gebracht hätte, ihn als Sechsjährigen zu bremsen, wenn er unten im Wohnzimmer in aller Höllenfrüh während Stunden die immer selben Melodien klimperte. Immerhin spielte sie selbst Klavier und begleitete die Kinder schon früh: Peter begann erst mit dem Cello, seine grosse Schwester spielte Geige. Der Vater indessen nahm die Kinder ständig mit ins Konzert. Das alles habe ihn geprägt: Die Landschaft, die Musik. Es sei ein Glück gewesen, dass er auch während seiner Zeit in einer dieser «berühmten, berüchtigten englischen Privatschulen mit unendlich viel Struktur» abends heimkommen durfte.

Als er 1953 zur Welt kam, war sein Vater als städtischer Architekt gerade damit beschäftigt, das vom Krieg zerbombte Plymouth aufzubauen. An Wochenenden fuhr er mit den Kindern durch die Gegend, um aus beruflichem Interesse Bauwerke zu besichtigen, aus Leidenschaft auch jede Kirche weit und breit. Wenn Musiker, dann sah sich Peter Solomon damals in einer bildschönen englischen Kleinstadt, in einer dieser wundervollen Kathedralen an der Orgel. Aber Musik stand nicht zuoberst auf der Wunschliste, sie war eine herrliche Selbstverständlichkeit. Physiker wollte er werden, bis er in einem Forschungszentrum für Kernkraft in Nordengland schnupperte, um erschüttert festzustellen, das er hier schnell wieder wegwollte. «Die Industrie und ihre Auswüchse hat mich so erschrocken, dass ich beruflich eine scheinbare Wendung um 180 Grad gebraucht habe», sagt er, «aber Mathematik und Musik gehören ja auch zusammen.» Dieser theoretisch-analytische Zugang zur Musik habe ihn immer interessiert, aber nicht nur.

Welten durchwandert

Seine Welt ist gross. Sie führte ihn als jungen Mann von der damaligen Künstlerkolonie in Dartington inmitten der Landschaften von Dartmoor weiter nach London, wo er in einem Haus mit Musikerinnen und Musikern wohnte. Alle waren sie mit dem Royal Opera House in Covent Garden verbunden, auch Peter korrepetierte da schon während des Studiums, spielte Orgel in den Kirchen und besuchte Konzert um Konzert, manchmal jeden Abend. Vier Jahre unterrichteten ihn Ian Lake, dann Kendall Taylor und Nicolas Kynaston: «Was für ein Glück ich immer hatte», sagt er. Ist er nicht viel eher ein sehr guter Pianist? «Gut?», fragt Peter. Was heisse das schon. Er habe einfach immer gespielt und mehr Menschen, mehr vom Leben sehen wollen. Paris zog ihn magisch an Anfang zwanzig, «Maurice Ravel, Claude Debussy. Die Kunst, die Kirchen», sagt Peter. Er reiste hin.

«Das waren damals völlig unterschiedliche Welten, heute reisen die Studierenden ja grossartigerweise ganz unkompliziert durch die Gegend und wachsen daran.» Seine Lehrerin war nun Marie-Claire Alain, zu ihr wollte er wie viele junge Organisten seiner Zeit. Und er wollte Olivier Messiaen begegnen, der damals neben dem Komponieren noch als Organist aktiv war: Sonntag um Sonntag hörte er ihm in der Trinity Kathedrale beim Improvisieren zu, bis er vernahm, dass in Köln ein Michael Schneider war, der eine Klasse für sich sei, also packte er seine Koffer und zog weiter, um von ihm zu lernen und zog wieder weiter, um die italienischen Städte künstlerisch-musikalisch zu erkunden: Mailand, Rom. Aber dazu kam es nicht, weil sein Weg über die Schweiz und über das Tonhalle-Orchester Zürich führte. 1981 spielte er erstmals im Saal, für dessen Klang er bis heute ins Schwärmen gerät: «Die Tonhalle Zürich ist einer der besten Konzertsäle Europas», sagt er. «Vielleicht der beste.»

Glückspilz mit Wehmut

Pensioniert fühlt sich Peter Solomon nicht. «Es kommt mir gar nicht danach vor», sagt er. Die Tage vergehen im Flug. Seine vielfältigen Jurytätigkeiten. Prüfungen, die wegen des Virus ausfallen, alles muss umorganisiert werden. Ein Kalender für die Zeit des nächsten Abschnitts, der sich füllt, Engagements, auf die er sich freut, Musik, der er sich widmen will. Seine zweijährige Enkelin, zu der sich bald ein zweites Enkelkind gesellen wird.

Und dann die neue Orgel für die Tonhalle am See: Noch bevor die Sanierungsarbeiten begonnen hatten, war klar, dass Peter als Vertreter der Tonhalle-Gesellschaft Zürich in der Orgelkommission sitzen würde. Grad ist sie fertig geworden. Bevor sie in ihre Einzelteile zerlegt wird, bevor sie verpackt aus den Ateliers in Männedorf zum Bürkliplatz transportiert und bevor Peter die Orgelbauer beim Intonieren beraten wird, weiss er: «Sie wird sich wunderbar in die Tonhalle am See einfügen.» Dieses Projekt bedeute ihm viel. «Die Kolleginnen und Kollegen müssen mich also noch ein bisschen ertragen», Wehmut dringt durch seine Stimme. Peter ist seinem Nachfolger Hendrik Heilmann aus Berlin noch nicht begegnet, Corona hat alles durcheinander gebracht. «Ihm wünsche ich so viel Freude mit diesem wunderbaren Orchester, wie ich sie hatte. Er ist ein wahrer Glückspilz.»

veröffentlicht: 16.05.2020