Der Flügel war die Wohnung
Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson versteht sein Instrument als Treffpunkt: Hinter den Tasten begegnet er Komponisten, Orchestern – und in dieser Saison gleich mehrfach dem Zürcher Publikum.
Man kann Víkingur Ólafsson fragen, was man möchte, seine erste Reaktion ist fast immer: «Oh, da könnte ich fünfzig Antworten geben!» Bei den Lieblingsblumen dagegen, da kommt auf Anhieb nur eine: «Das sind die Glockenblumen, die wachsen überall in der isländischen Wildnis. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich sie sehe.»
Auch bei seinen Besuchen in Zürich hat er einen Blick für die Natur. Dass er am See attraktive Sujets für seinen Instagram-Kanal findet, ist naheliegend. Aber es kommt auch vor, dass er auf dem Weg zu einer Tramhaltestelle plötzlich sein Handy zückt und einen Schmetterling knipst, der auf dem Asphalt sitzt. Oder dass er beim Fotoshooting für das Titelbild dieses Magazins auf die gläserne Pflanzenbox zeigt, die das Tonhalle-Foyer im oberen Geschoss vom Kongresshaus trennt: Dort drin würde er gerne fotografiert werden, meint er, und stellt sich dann als vermutlich erster Solist in der Geschichte der Tonhalle Zürich mitten ins Grün.
Solche Episoden verraten allerdings nicht nur die Naturliebe des Pianisten, sondern auch einiges über seine Sicht auf die Welt im Allgemeinen und die Musik im Besonderen. So wie er einen Schmetterling auf dem Trottoir entdeckt, findet er in den Partituren kleine Schönheiten, die man leicht übersehen beziehungsweise überhören könnte. Und mit derselben Bestimmtheit, mit der er sich Zugang zur eigentlich verschlossenen Pflanzenbox verschafft, verfolgt er musikalisch seinen eigenen Weg.
Brahms ohne Bart
Dieser Weg hat ihn ganz nach oben geführt. Man müsste Víkingur Ólafsson einen Superstar nennen, wenn das Wort nicht seltsam klingen würde bei einem, der so gar keine Allüren hat. Wenn er CDs signiert, zieht sich die Schlange der Anstehenden durch das ganze Foyer. 2,5 Millionen Menschen erreicht er monatlich auf Spotify (und ist damit die spektakuläre Nummer 2 hinter Lang Lang). Sein Zürcher Rezital mit Yuja Wang im vergangenen Oktober war so schnell ausverkauft, dass zusätzliche Stühle auf die Bühne gestellt wurden. Auch hinter den Kulissen und im Orchester hat er viele Fans: weil er so nett ist, aber dennoch kein bisschen brav.
Was das bedeutet, war bei der Saisoneröffnung zu hören. Brahms' Klavierkonzert Nr. 1 stand auf dem Programm, ein Repertoire-Hit also – und eine perfekte Vorlage für einen Pianisten, der jede Aufführung als Abenteuer versteht. Im Gespräch ärgert er sich über die Tatsache, dass man von Brahms viel zu oft die Bilder «mit Bauch und Bart» sehe; der Komponist sei 26 Jahre alt gewesen, als er dieses Werk schrieb, «und man würde es ganz anders hören, wenn die Fotos des jungen, schönen, glattrasierten Brahms bekannter wären!» Auf der Bühne führte diese Haltung dazu, dass er bei jeder Gelegenheit den Kontakt ins Orchester suchte – und damit jene musikalische Lebendigkeit, um die es ihm schon immer ging.
Angefangen hat es einst damit, dass seine Eltern ungewöhnliche Prioritäten setzten: Erst wurde ein Flügel gekauft, ein Steinway Modell B. Was danach an Erspartem übrig blieb, musste reichen für die Wohnung. Eine «sehr kleine Souterrain-Wohnung» sei es gewesen, erzählt Víkingur Ólafsson. Er teilte sein Zimmer mit seinen beiden Schwestern, und das Wohnzimmer war so winzig, dass neben dem Steinway nicht mehr vieles Platz hatte: «Der Flügel war sozusagen die Wohnung, der Treffpunkt, wo alles passierte.»
In seinem Fall passierte ganz Unterschiedliches. Die Mutter, eine Klavierlehrerin, begeisterte ihn für Chopin und Bach. Der Vater, ein Architekt und Komponist, weckte seine Liebe zur Moderne, zu Kurtág und Stockhausen. Was die Eltern als gegensätzlich empfanden, gehörte für den Sohn schon früh zusammen: das Analytische und das Romantische, das Üppige und das Stachelige. Das hat sich bis heute nicht geändert; so ist es zweifellos kein Zufall, dass er in der laufenden Saison als Fokus-Künstler mit dem Tonhalle- Orchester Zürich nicht nur die Konzerte von Brahms spielt, sondern auch das eigens für ihn komponierte «After the Fall» von John Adams.
Doch so sehr er die stilistische Abwechslung liebt und braucht, so kompromisslos kann er sich einem einzigen Werk verschreiben. In der vergangenen Saison hat er sich in 88 Konzerten rund um den Globus ausschliesslich mit Bachs «Goldberg- Variationen» auseinandergesetzt. Marketing-technisch war das ein Coup, aber darum ging es ihm nicht: Das spürten wohl alle, die beim Zürcher Konzert gegen Ende der Tournee im Saal sassen.
Einerseits hörte man in jedem einzelnen Takt, wie genau der Pianist das Werk kannte. Da war keine Spur von Routine, im Gegenteil. Wie er mal die eine und bei der Wiederholung eine andere Stimme in den Vordergrund rückte, wie er Details beleuchtete und dennoch nie den grossen Bogen verlor, wie er auch hier auf jede musikalische Frage mindestens fünfzig Antworten zu haben schien: Das war so begeisternd wie berührend. Und man verstand, was er meint, wenn er sein Instrument als «Portal» beschreibt, «weil es einen überall hinbringen kann».
Sprung aufs Festland
Geografisch brachte es ihn zunächst nicht besonders weit. Zwar studierte er in New York, an der renommierten Juilliard School, als damals einziger Isländer. Aber danach trat er jahrelang ausschliesslich in seiner Heimat auf, «ausserhalb kannte mich niemand». Denn Island ist eine Welt für sich, auch eine Musikwelt für sich. Erst 1920 hat erstmals ein Sinfonieorchester die Insel bereist, die klassische Tradition ist weit jünger als anderswo. Nur knapp 400'000 Menschen leben hier; wer Musik macht, steht fast unweigerlich irgendwann gemeinsam auf der Bühne. Víkingur Ólafsson hat nicht weniger als sechs Klavierkonzerte von isländischen Komponisten zur Uraufführung gebracht – und auch schon Projekte mit der legendären Sängerin Björk realisiert.
Man kennt sich in Island, man unterstützt sich. Mehr noch: Alle sind irgendwie verwandt. Das erfährt man, sobald der Pianist den erwähnten Schmetterling fertig fotografiert hat und für eine Folge der Videoreihe «Tram for Two» mit Paavo Järvi im 9er-Tram durch Zürich fährt. Dort erzählt er vom «Íslendingabók», dem «Buch der 47 Isländer», in dem alle Menschen aufgeführt sind, die seit 1703 auf der Insel lebten – samt der Stammbäume. Die Datenbank sei gerade für junge Isländer enorm wichtig, sagt er: «Als ich meine jetzige Frau kennenlernte, haben wir sie sofort konsultiert.» Danach haben sie aufgeatmet: Denn ihre Verwandtschaft reicht sieben Generationen zurück, «also ungefähr in die Mozart-Zeit». Für isländische Verhältnisse sei das hervorragend, «alles über vier Generationen gilt hier als gut».
Es war dann passenderweise ein sehr isländischer Anlass, der Víkingur Ólafsson den Sprung aufs Festland ermöglichte. 2011 spielte er bei der weiträumig beachteten Einweihung des Konzerthauses Harpa in Reykjavík; ab dann begann sich seine Agenda mit internationalen Terminen zu füllen.
Reisen und Heimkommen
Er geniesst das, und nicht nur des Ruhms oder der musikalischen Begegnungen wegen. Er reise «tatsächlich immer noch gern», sagt er, und er sieht dabei weit mehr als nur Flughäfen und Konzertsäle. Oft erkundet er die Städte in Joggingschuhen, auch in Zürich hat er rasch eine passende Route entdeckt. In New York faszinieren ihn die Museen, in Italien die Kleiderläden und die antiken Monumente. Und dann ist da – neben der Natur – die Architektur, die zweite Leidenschaft neben der zeitgenössischen Musik, die ihm sein Vater vermittelt hat. Wo immer er kann, besucht er Gebäude des Finnen Alvar Aalto, des Japaners Tadao Andō oder des Schweizers Peter Zumthor: Hier findet er jene «perfekte Beziehung zwischen Disziplin und Fantasie», die auch sein Musizieren ausmacht.
Schöner als das Reisen ist nur noch das Heimkommen. Wenn sich nach einer Tournee seine beiden kleinen Söhne an ihn hängen, so erzählt er, «dann ist das der glücklichste Moment in meinem Leben».