Michel Trösch (Foto: Gaëtan Bally)
Tournee-Arzt im Gespräch

Die zwei Herzen eines Kardiologen

Wenn das Tonhalle-Orchester Zürich auf Konzertreise geht, erleben über 100 Menschen eine intensive Zeit. Gut, dass Tournee-Arzt Michel Troesch viel Erfahrung mit Menschen, Musikern und seiner Oboe mitbringt.

Interview: Katharine Jackson

Herr Troesch, …

Ich heisse Michel für alle, die mit dem Tonhalle-Orchester Zürich zu tun haben.

Du bist Arzt, aber in deinem Leben spielte die Musik schon immer eine grosse Rolle. Was kam denn zuerst?

Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ich bin Kardiologe und passionierter Hobbymusiker. Schon in meiner Ausbildung habe ich zwischen Medizin und Musik geschwankt. Zunächst studierte ich Oboe am Pariser Konservatorium. Mir wurde im Verlauf des Studiums klar, dass man sehr, sehr gut sein muss, um als Musiker wirklich erfolgreich zu sein. Ich wollte beruflich ein sicheres Standbein haben und entschied mich für das Medizinstudium.

Das sind sehr unterschiedliche Berufsfelder. Wieso Medizin?

Da bin ich von meiner Mutter geprägt, die Ärztin war. Zunächst wollte ich Kinderarzt werden, aber dann hat mich die Kardiologie gepackt. Ich nutzte die Möglichkeit, während meines ganzen Medizinstudiums sehr viel zu musizieren, weil Amateur-Oboisten gesucht wurden. Während ich in Basel studierte, war ich zum Beispiel Mitglied der Freiburger Barocksolisten. Ich spiele bis heute Oboe, auch Fagott und Blockflöte, und darf ab und zu bei Musikern des Tonhalle-Orchesters Zürich Unterricht geniessen. Das ist wunderbar.

Wie hast du es hinbekommen, Musik und deinen intensiven Beruf zu verbinden?

Ich hatte immer Schwierigkeiten, mich einzuschätzen. Deshalb betrieb ich für mein Medizinstudium stets einen sehr grossen Aufwand. Ich dachte oft, dass ich durch die Prüfungen falle, aber es ging dann immer sehr gut. Eigentlich ist es heute immer noch so, ich bereite mich sehr gründlich vor, beim Musizieren und in meiner Tätigkeit als Arzt. Wenn ich etwas mache, dann mache ich es richtig.

Als Musiker hättest du einen Beruf gewählt, der grosse Selbstverantwortung bezüglich der Gesundheit und des Probens erfordert. Als Kardiologe trägst du Verantwortung für andere, deine Patientinnen und Patienten.

Medizin ist Intuition. Man kann sich viel theoretisches Wissen aneignen, aber wenn man keine intuitiven Fähigkeiten hat, wird man kein wirklich guter Mediziner. Heute werden in allen medizinischen Examen zu viele Multiple-Choice-Fragen gestellt, dabei geht die klinische Beurteilung eines Patienten verloren. Der klinische Blick und die jahrelange Erfahrung sind im Berufsalltag sehr wichtig. Mit zunehmenden Jahren merkt man, dass jede und jeder ein Individuum ist. Das gilt bei Musikerinnen und Musikern ganz besonders. Man muss die Gabe haben, sich in diese hochsensiblen Menschen hineinzudenken. Da hilft es mir als Arzt sehr, dass ich selbst musikaffin bin. Zudem ist es mir immer leichtgefallen, mit Menschen und besonders mit Musikern zu kommunizieren.

Wie kam es, dass viele Musikerinnen und Musiker Patienten von dir wurden?

Ich hatte meine eigene Kardiologie-Praxis im Gebäude der Dr. Andres Apotheke Stadelhofen, ganz in der Nähe des Opernhauses. Zudem kannte ich durch mein Musizieren schon viele Patienten aus der Oper und aus der Tonhalle Zürich. Einmal kam eine Weltklassepianistin in meine Praxis. Ich habe vor Ehrfurcht keinen Satz sprechen können. Es gelang der Pianistin dann, den Bann zu brechen.

Du bist im besten Pensionsalter, arbeitest aber immer noch. Warum?

Eigentlich wollte ich mit 65 Jahren aufhören. Dann sagte mir ein Freund, der zugleich auch mein Patient war: «Du hast mir das Leben gerettet. Du musst weiterarbeiten! Ich biete dir einen Raum in meiner Schreinerei. Wir zwei gründen eine AG.» Heute bin ich leitender Arzt der Cardiac Consulting AG und mein Chef ist ein Schreinermeister. Ich entscheide, an welchen Tagen ich arbeite und wie viel Zeit ich mir für meine Patienten nehme. Das ist mir wichtig. Ich bin zudem noch in leitenden Funktionen in unterschiedlichen Kliniken tätig.

Und wie kam es, dass du der Tournee-Arzt unseres Orchesters wurdest?

Meine Frau und ich wollten mal als Besucher an einer Konzerttournee teilnehmen. Ich kenne Martin Vollenwyder, den Präsidenten des Verwaltungsrats, sehr gut. Eines Tages rief er mich an und fragte mich, ob ich denn nicht gleich als Tournee-Arzt dabei sein könne. Ich nahm einen Defibrillator und ein Ultraschallgerät mit, die ich beide nie brauchte. Bei dieser Tournee habe ich über Allgemeinmedizin mehr gelernt als bei einem Kardiologen-Kongress über Kardiologie.

Wenn du eine Stellenanzeige für den Job des Tournee-Arztes aufgeben würdest, wie sähe das Profil aus?

Man muss ein grosses Einfühlungsvermögen haben. Man muss zwischen wirklichen Notfällen und nicht so wichtigen Notfällen differenzieren können. Man muss schnell Entscheidungen treffen, gut organisieren und vor allem gut kommunizieren können.

Ich kann mich an Konzertreisen erinnern, da war der Arzt sehr gefragt.

Ja, das stimmt. Die Musikerinnen und Musiker müssen unter intensiven Bedingungen Hochleistungen erbringen. Tourneen sind für sie schon ein unheimlicher Stress. Es sind über 100 Leute unterwegs, und wenn bei einem Fieber auftritt, fürchtet man, dass sich mehrere anstecken. Wir tauschen uns für die Entscheidungsfindung aus. Und es vergeht auf Tourneen kein Tag, an dem man keine Entscheidungen treffen muss.

Auf einer mehrtägigen, intensiven Tournee ist das Verhältnis von Nähe und Distanz ein schmaler Grat. Und es gehört zu deinem Beruf, ein feines Gespür für dieses Spannungsverhältnis zu haben. Wie gehst du damit um?

Es ist nicht meine Art, mich als Arzt im weissen Kittel aufzuspielen. Das habe ich auch nie gemacht, als ich meine erste Praxis hatte. Ich denke, dass ich eine natürliche Autorität habe und dass Musikerinnen und Musiker Distanz auch gar nicht schätzen würden.

Wo bist du während der Konzerte?

Ich war bisher immer im Konzertsaal. Und die Dinge, die ich brauche, liegen in einem Raum im jeweiligen Konzerthaus, den ich mir als Behandlungszimmer einrichte. Im Konzert habe ich einen Rucksack mit den wichtigsten Medikamenten bei mir, und dann sitze ich schon manchmal wie auf Kohlen. Meistens sind es kleinere Beschwerden wie Heiserkeit oder Husten. Meine Aufgabe ist es, zu beruhigen, wohlwissend, dass manche Medikamente nicht innerhalb von wenigen Minuten wirken. Bisher hat das immer gut geklappt.

Was bedeutet dir diese verantwortungsvolle Aufgabe?

Mittlerweile war ich bei zwei Europa- und einer Asientournee als Arzt dabei. Das waren wunderschöne Erlebnisse, und die Aufgabe gibt mir viel. Ich habe über diese Arbeit auch einen neuen Freundeskreis aufgebaut: Kürzlich habe ich mit Michael Reid, dem Solo-Klarinettisten des Tonhalle-Orchesters, Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 4 für zwei Blockflöten gespielt. Dirigiert wurde die Aufführung vom Solo-Posaunisten David Bruchez-Lalli. Zudem spielte ich erstmals im Publikumsorchester mit: In Jacques Iberts Flötenkonzert, einem sehr schwierigen Stück, übernahm ich die erste Oboe. Nun freue ich mich auf die nächsten Tourneen!

Oktober 2024
So 27. Okt
20.00 Uhr

Gastspiel in Alicante

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director Mahler
Mo 28. Okt
20.00 Uhr

Gastspiel in Barcelona

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Lisa Batiashvili Violine Prokofjew, Mahler
Di 29. Okt
19.30 Uhr

Gastspiel in Madrid

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Lisa Batiashvili Violine Mozart, Prokofjew, Schostakowitsch
Mi 30. Okt
19.30 Uhr

Gastspiel in Madrid

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director Mahler
Do 31. Okt
19.30 Uhr

Gastspiel in Zaragoza

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Lisa Batiashvili Violine Mozart, Prokofjew, Schostakowitsch
veröffentlicht: 15.10.2024

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