Tugan Sokhiev, Senkrechtstarter
Für den russischen Dirigenten lief alles rund – bis er zu einer Entscheidung gedrängt wurde.
Er spreche lieber über Musik als über Privates, sagte Tugan Sokhiev im Videotagebuch, das 2012 seinen Einstand als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin begleitete. Das passte zu einer Karriere, in der es von Anfang an tatsächlich sehr geradlinig, unaufgeregt und ausschliesslich um die Musik ging. Sokhiev war 17 Jahre alt, als er seine ersten Dirigier-Versuche unternahm und seine Bestimmung fand. Bereits während der Studienzeit leitete er Produktionen im St. Petersburger Mariinsky-Theater, mit 24 Jahren dirigierte er eine «Bohème» in Island. Kurz danach wurde er als Chefdirigent an die Welsh National Opera verpflichtet.
Ab dann wurde sein Radius zunehmend grösser, und es wäre wohl ewig so weitergegangen – wenn Russland die Ukraine nicht angegriffen hätte. Tugan Sokhiev war damals als Chefdirigent doppelt engagiert, einerseits am Opernhaus in Toulouse, andererseits am Bolschoi-Theater in Moskau. Die Zeit, in der er ausschliesslich über Musik reden konnte, war damit im Februar 2022 endgültig vorbei.
Zwar hatte der 1977 in Nordossetien geborene Dirigent nie als Vertrauter Putins gegolten, und er lebte längst in London. Aber wie alle russischen Musiker*innen wurde er nach Kriegsbeginn zu einer expliziten Distanzierung aufgefordert – und gab in der Folge gleich beide Chefstellen auf. Europa zwinge ihn, «eine untragbare Wahl» zu treffen und «ein Mitglied meiner musikalischen Familie vorzuziehen», schrieb er auf Facebook; er finde es «schockierend und beleidigend », dass überhaupt die Vermutung auftauche, er könnte als Musiker «jemals für etwas anderes als für den Frieden auf diesem Planeten eintreten».
Es war ein Statement eines Dirigenten, der es sich nicht leicht machte; der nicht einfach möglichst rasch und in Schwarz- Weiss das lieferte, was man von ihm hören wollte, sondern seine «komplexen Gefühle», seine Zerrissenheit zum Ausdruck brachte: so persönlich und emotional, wie man das von ihm tatsächlich nicht gewohnt war. Denn anders als andere russische Musiker*innen, die den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten schon lange in den Westen verlegt hatten, bezahlte Tugan Sokhiev einen sehr konkreten Preis für seine Haltung. Seine Karriere, die so steil verlaufen war, verlor mit dem doppelten Rücktritt von einem Tag auf den anderen ihre Basis.
Inzwischen ist seine Agenda wieder gut gefüllt. In Russland dirigiert er nicht mehr, aber er setzt nach wie vor regelmässig Werke von Tschaikowsky oder Schostakowitsch auf seine Programme. Sein Debüt beim Tonhalle-Orchester Zürich gibt er dagegen mit Strauss und Liszt. Dass er zumindest musikalisch seine beiden «Familien» besuchen kann: Das lässt er sich zu Recht nicht nehmen.