Verloren für 13 Jahre
Wenn eine Geige verschwindet, ist das ein Albtraum. Isabelle Weilbach-Lambelet hat ihn erlebt. Und auch das Happy End, viel später, als niemand mehr damit rechnete. Kein Wunder, hat sie ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrem Instrument.
«Während des Studiums besuchte ich mit meinem Klaviertrio einen Meisterkurs in London. Das war im Jahr 2005. Der Unterricht fand in einem herrschaftlichen Haus statt und es hiess, man könne danach die Instrumente problemlos dort lassen. Die meisten taten das, aber ich war schon immer sehr vorsichtig, also nahm ich meine Geige mit. Eines Abends gingen wir mit meinem Trio essen und fuhren danach mit dem Zug in unsere Unterkunft zurück. Die Geige legte ich auf die Gepäckablage. Kurz dachte ich noch, das sei vielleicht keine gute Idee, aber ich liess sie trotzdem oben.
Es war schon stockdunkel und wir waren gerade in ein Gespräch über die Zukunft unseres Trios vertieft, sodass wir die Station fast verpassten, bei der wir aussteigen mussten. So stürmten wir im letzten Moment aus dem Zug. Da meine Kollegin ihr Cello nicht dabeihatte, fiel mir erst gar nichts auf. Ein paar Minuten später jedoch fragte mich unsere Pianistin: ‹Wo ist denn deine Geige?› In dieser Sekunde stand mein Herz still, mir war sofort klar: Sie war im Zug.
Es war der Horror. Ich rannte panisch zurück zum Bahnhof, aber inzwischen war es schon Mitternacht, kein Mensch war dort. Bei einer Zentralnummer, die ich anrufen konnte, hiess es, sie wüssten von nichts, es sei nichts abgegeben worden. Darauf folgte eine sinnlose und verzweifelte Fahrt zur Paddington Station, in der Hoffnung, dort einen offenen Schalter zu finden. Um 1 Uhr nachts hatte natürlich alles zu. Am nächsten Tag ging ich dann zum Fundbüro und zur Polizei, füllte allerlei Formulare über das verlorene Instrument aus. Es war eine sehr schöne alte italienische Geige. Der Polizist erschrak kurz über den Wert des Instruments, nahm die Formulare entgegen – und steckte sie in eine Schublade.
An diesem Abend hatten wir das Abschlusskonzert des Meisterkurses. Dafür lieh mir der Dozent seine Violine. Es war ein hoch emotionales Konzert …
Suchen – aber wie?
Am nächsten Tag ging es zurück nach Hamburg, wo ich damals studierte. Dort sass ich in meiner Einzimmerwohnung, ohne Geige. Es war furchtbar, eine Ersatzgeige hatte ich auch nicht. Ich fühlte mich unendlich einsam und hilflos. Natürlich suchte ich weiter, aber es war schwierig, auch weil das Internet damals noch längst nicht so viele Möglichkeiten bot wie heute. Ich fragte mich ständig, ob ich auch wirklich alles unternommen hatte, was möglich war.
Gleichzeitig gingen das Studium und die Konzerttermine weiter. Mein Freund lieh mir seine Geige aus, und als die Versicherung glücklicherweise bezahlte, konnte ich mir nach einer längeren Suche eine neue kaufen. Auch das war ein sehr gutes Instrument, aber es war eben nicht wirklich meins. Es war, als hätte ich meine Stimme verloren, meinen Klang, meine Identität als Musikerin.
Später zog ich nach München, um weiter zu studieren, und kam dann 2009 nach Zürich ins Tonhalle-Orchester. Ich behielt damals meine deutsche Telefonnummer, zum Glück! Denn 2018, also 13 Jahre nach dem Drama in London, hatte ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: Ich solle mich bitte dringend melden, es gebe Neuigkeiten.
Verhinderte Versteigerung
Tatsächlich war meine alte Geige bei einem grossen Auktionshaus in London aufgetaucht. Als sie angeboten wurde, war zufällig jener Geigenbauer, der sie uns einst verkauft hatte, vor Ort. Er erkannte sie, teilte den Verantwortlichen mit, dass es sich um eine verschwundene Violine handelte, und sorgte letztlich dafür, dass sie nicht versteigert wurde. Ich sah im Internet ein Foto von ihr auf dem Auktionstisch. Es war tatsächlich meine Geige, und sie war unversehrt. So greifbar und doch noch unerreichbar. Ich war tief gerührt und überglücklich!
Dann wurde es aber richtig kompliziert, denn natürlich bekam ich die Geige nicht einfach so zurück. Sie blieb im Safe der Versicherung. Die Leute, die sie zur Auktion gebracht hatten, bestanden darauf, dass dies die Geige ihres Grossvaters gewesen sei, die sie auf dem Estrich gefunden hätten. Gut möglich, dass dieser Grossvater einst meine Geige im Zug gefunden hatte, dass also die Geschichte aus ihrer Sicht stimmte. Aber sie konnten keine Beweise liefern, dass die Geige ihnen gehörte. Ich dagegen hatte den Kaufbeleg und Fotos von mir mit dem Instrument.
Die Zeit verging, nichts Konkretes passierte. Irgendwann fuhr ich nach London, ich musste meine Geige einfach sehen. Was für eine Emotion! Erst der Anblick von ihr – zusammen mit meinen zwei Bögen – und dann die ersten Töne darauf. Die Anwälte liessen mich sie nur zehn Minuten spielen, aber es war wie ein ‹nach Hause kommen›. Ein unglaubliches Gefühl von Vertrautheit und Glück, meinen Klang wiederzufinden. Es hatte sich nichts verändert, das Instrument war in den 13 Jahren wohl nie gespielt worden.
Danach vergingen noch einmal ein paar Monate, bis alles Rechtliche geregelt war. Ein Jahr nach der Nachricht durfte ich meine Geige dann in London abholen. Ich flog zurück nach Hause wie im Traum. Es war, als hätte ich einen geliebten Menschen wieder bei mir. Ein Wunder!
Nun darf ich meine Geige seit vier Jahren wieder spielen. Jedes Mal, wenn ich sie in die Hand nehme, erfüllen mich Freude und tiefe Dankbarkeit, wieder mit ihr vereint zu sein.»
Aufgezeichnet von Susanne Kübler