
Familiengeschichten Teil 2
Auf den Spuren der Eltern und Grosseltern – und im Spagat zwischen zwei Orchestern.
In der Serie «Familiengeschichten» erzählen zehn Musiker*innen, zwei Mitarbeiterinnen aus dem Management-Team und Music Director Paavo Järvi von ihren Eltern, Geschwistern, Kindern.
Sie verraten, mit welcher Musik sie aufgewachsen sind, wie man den Alltag als Musikerpaar organisiert. Im zweiten Teil geben Maxine Stucky, Paavo Järvi, Gilad Karni und Elisabeth Harringer-Pignat Einblick in ihr Fotoalbum.
Maxine Stucky – Billettkasse
Wenn auch klapperndes Geschirr Musik ist
«Mein Grossvater André Raoult war Solo-Oboist im Tonhalle-Orchester Zürich. Er hat immer viel erzählt von dieser Zeit, von den Tourneen, vom Orchesteralltag. Von daher war für mich schon als Kind klar: In die Tonhalle geht man, um zu arbeiten. Allerdings wollte ich nie Musikerin werden, mein Platz ist hinter den Kulissen; es gefällt mir, Dinge zu ermöglichen, zum Konzertleben beizutragen.
Dass ich das nun gerade an der Billettkasse in der Tonhalle tue, ist ein Zufall. Ich liebe klassische Musik, aber auch ganz viel anderes. Das hat zweifellos mit meiner Familie zu tun: Mein Vater Marco Raoult ist Bassist, unter anderem bei Pirelli and the Pancakes und bei Jean et les Peugeot. Und meine Mutter ist die Jazz-Sängerin, Jodlerin und Akkordeonistin Erika Stucky. Bei uns zu Hause lief jede Musik von Bob Dylan über französische Chansons bis hin zu AC/DC. Doch es wurde überhaupt alles als Musik verstanden: ein tropfender Wasserhahn, das Geklapper von Geschirr. Wenn man zufällig irgendein besonderes Geräusch verursachte, sagte meine Mutter jeweils: ‹Mach das noch einmal!› Dann hat sie es aufgezeichnet, als Inspiration. Das hat mich schon geprägt, diese musikalische Offenheit, dieses Denken in Klängen und Strukturen, auch das Verständnis von Qualität. Ich weiss, wie viel Arbeit dahintersteckt, wenn man etwas gut machen will, ganz egal in welchem Stil.
Meine erste musikalische Liebe waren die Soundtracks der Disney-Klassiker: So tolle Orchester, so tolle Sängerinnen und Sänger! Heute reise ich der K-Pop-Band BTS hinterher, die fand ich bereits lange vor dem Hype um sie grossartig. Und wer weiss, vielleicht lerne ich irgendwann doch noch, ein Instrument zu spielen. Früher wollte ich das nie, aber allmählich zieht es mich sehr in Richtung E-Gitarre.»
Paavo Järvi – Music Director
Im engen Austausch mit dem Vater
«Es gibt kaum erwachsene Menschen in der Familie Järvi, die nicht Musiker sind. Mein Vater Neeme Järvi ist als Dirigent nach wie vor sehr aktiv, kürzlich war er wieder auf China-Tournee. Mit 87 Jahren! Mein Bruder Kristjan ist ebenfalls Dirigent, meine Schwester Maarika Flötistin. Und dann sind da ganz viele weitere, Cousins, Cousinen, Tanten, Onkel – im Sommer, bei unserem Festival in Pärnu, treffen sich jeweils etwa 25 Järvis auf der Bühne. Nur meine Mutter ist keine Musikerin; sie war zu Hause für alles andere zuständig, für die Kinder, die Farbe der Vorhänge, überhaupt all die praktischen Angelegenheiten; aber auch für die Entscheidung, Estland beziehungsweise die damalige Sowjetunion zu verlassen und in die USA auszuwandern. Diszipliniert zu leben, sparsam zu sein: Das habe ich von ihr gelernt.
Für mich war schon immer klar, dass ich wie mein Vater Dirigent werden würde, ich habe nie über andere Optionen nachgedacht. Durch ihn habe ich schon als Kind grosse Komponisten kennengelernt: Dmitri Schostakowitsch etwa, oder Arvo Pärt, der für mich ‹Onkel Arvo› war. Ich habe dann genau wie mein Vater als Schlagzeuger begonnen, das ist ein guter Einstieg: Man kann schon früh in Orchestern aushelfen und hat daher viel Zeit, dieses besondere Verhältnis zwischen Dirigent und Orchester zu beobachten. Man merkt, was funktioniert und was nicht, wie man etwas fordert und wie man um etwas bittet.
Als ich anfing als Dirigent, hat mich mein Vater jeweils vor bestimmten Stellen gewarnt: Pass auf, diese Passage ist heikel! Bis heute telefonieren wir oft, wir sind in engem Austausch. Manchmal sitzt er auch im Publikum, wenn ich dirigiere – das gibt mir immer eine zusätzliche Motivation.
Meine beiden Töchter sind übrigens ganz entgegen der Familientradition nicht Musikerinnen geworden, obwohl beide künstlerisches Potenzial haben. Aber sie lernten Klavier spielen, das war mir wichtig: nicht, weil ich sie in diese Richtung hätte drängen wollen, sondern weil es die Disziplin schult – und weil man dabei erfährt, wie befriedigend es ist, wenn man etwas in den Griff bekommt.»
Gilad Karni – Solo-Viola
Profis oder Laien, Musik machen alle
«Meine Mutter war Handarbeitslehrerin, mein Vater arbeitete in der Diamantenproduktion, aber es ist kein Zufall, dass sowohl ich als auch meine beiden Schwestern Musik studiert haben. Bei uns zu Hause wurde sehr viel Kammermusik gemacht, häufig bis in die frühen Morgenstunden; ich erinnere mich, wie ich mich als kleines Kind im Flur versteckte, um zuzuhören. Meine Mutter spielt Cello, als Amateurin, aber oft zusammen mit Profis. Sie hat uns sehr geschickt gefördert – ohne Druck, aber gezielt. Von meinem Vater habe ich ebenfalls musikalische Gene geerbt, er spielt Mundharmonika und singt, am liebsten französische Chansons. Und dann war da noch eine Tante, die Sängerin war, eine Schülerin von Elisabeth Schwarzkopf. Sie hat mich sehr geprägt, und unsere gemeinsame Aufführung von Brahms-Liedern im Tel Aviv Museum of Art werde ich nie vergessen.
Auch sonst gibt es in meiner Familie überall Musikerinnen und Musiker – die einen sind Profis, die anderen engagierte Laien. Meine Frau Eugenia ist Konzertmeisterin in Fribourg und Basel, mein Sohn Gerald ist Bratschist und Dirigent; meine Tochter Yasmine arbeitet in der Biotechnologie, hat sich die Musik aber als Hobby bewahrt. Eine Nichte ist eine talentierte Violinistin, eine andere singt Pop, ein Neffe studiert Musikwissenschaften und spielt Oboe. Da meine Schwestern und ich in verschiedenen Ländern aktiv sind und waren, haben wir ein sehr weitgespanntes Netzwerk. So können wir die jüngere Generation unterstützen, wenn es darum geht, Kontakte herzustellen.
Und natürlich musizieren wir zusammen, nicht nur bei Familienfesten: Ich habe ein Trio mit meiner Frau und meiner Schwiegermutter, die Pianistin ist. Und letztes Jahr fand in meiner Heimat Israel das vielleicht schönste Familienkonzert statt: Mein Sohn dirigierte, meine Frau und ich spielten die Soli in Mozarts Sinfonia concertante. Es war das erste Mal, dass wir zu dritt auf der Bühne standen – ein sehr emotionaler Moment.»
Elisabeth Harringer-Pignat – 1. Violine
Am Anfang war die tonhalleLATE
«Mein Mann Xavier Pignat und ich haben uns dank einer schnellen Niederlage von Roger Federer beim Viertelfinale der French Open kennengelernt. Ich war damals in meinem Probejahr im Orchester, er war Praktikant bei den Cellisten, aber wir hatten nie direkt miteinander zu tun. Es gab dann eine tonhalleLATE, er war nicht eingeteilt und wollte stattdessen das Tennisspiel schauen. Da es so unerwartet kurz dauerte, kam er doch zum Konzert – und wir haben auf der Tanzfläche zum ersten Mal ein paar Worte gewechselt. So hat es angefangen.
Später spielte er gelegentlich als Zuzüger bei uns und studierte weiter bei unserem damaligen Solo-Cellisten Thomas Grossenbacher. 2006 hätte er auf unsere Japan-Tournee mitkommen können, aber gleichzeitig gab es ein Probespiel im Opernhaus Zürich – und selbst wenn ich mich extrem gefreut hätte, wenn er mitgereist wäre, wollte ich nicht, dass er diese Chance verpasst. Ich würde die Telefonzelle in Fukuoka wohl heute noch finden, aus der ich ihn am Abend nach dem Probespiel anrief …
Dass er den Job im Opernhaus bekam, war ein Riesenglück für uns. Es hätte ja sein können, dass es ihn ganz woanders hin verschlägt. So haben wir beide eine Stelle in Zürich, jedoch nicht im gleichen Orchester, das ist ideal für uns. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn wir auch bei der Arbeit immer dasselbe erleben würden. Und als die Kinder kamen, war es wegen der unterschiedlichen Probenzeiten ebenfalls einfacher. Im Opernhaus hat das Orchester immer am Montag frei, da konnte ich ganz entspannt meine Dienste spielen. Und die Konzertabende haben wir mit Babysittern abgedeckt. Es war trotzdem oft eng, ich war zwischen zu Hause und der Tonhalle häufig sehr schnell mit dem Velo unterwegs. Aber jetzt sind die Buben 11 und 14 Jahre alt, da ist es viel weniger anstrengend.
Wir geniessen die Zeit mit ihnen, wir reservieren auch bewusst proben- und konzertfreie Phasen. Das ist nötig – mit zwei Mal hundert Prozent und diversen Kammermusikprojekten sind wir ziemlich gut ausgelastet. Zum Duo-Spielen kommen wir deshalb im Moment kaum. Doch das wird wieder!»